In Baden werden psychisch gestörte Straftäter ambulant betreut. Sie sollen davon abgehalten werden, wieder straffällig zu werden.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Karlsruhe - Es ist ruhiger worden um das Thema "Sicherungsverwahrung", jetzt sind die Experten am Zug. Die Fixierung auf einen kleinen Kreis langjährig inhaftierter Männer wird von Fachleuten sowieso als abseitig angesehen. Es kommen nämlich jeden Tag viel jüngere und erstmalige Straftäter wieder frei - mit höherem Rückfallrisiko. "Viele werden ohne Behandlung einer psychischen Störung entlassen", sagt Klaus Michael Böhm, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe.

 

Das wäre die Aufgabe der forensischen Psychiatrie, der Wissenschaft, die sich mit dem Gefährlichkeitsgrad von Straftätern und deren Behandlung befasst. Solche Einrichtungen, die psychisch gestörte Straftäter nichtstationär betreuen, gibt es in der Landeshauptstadt und in Baden. Sie sind aus der "Behandlungsinitiative Opferschutz" (Bios) entstanden, einer 2005 vom Justizministerium Baden-Württemberg ins Leben gerufenen Initiative. Seit 2008 ist Bios ein gemeinnütziger Verein, der im badischen Landesteil die Forensische Ambulanz Badens gegründet hat.

Präventive Therapie ist vorsorglicher Opferschutz

"Wir wollen, dass jeder, der entlassen wird, begutachtet wird, so dass ihm geholfen werden kann", sagt Richter Böhm, der auch Vorsitzender des Bios-Vereins ist. Besser wäre eine frühere Begutachtung. Schon bei der Gerichtsverhandlung sollte geprüft werden, ob eine psychische Störung vorliegt, damit therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden können. "Im deutschen Strafverfahren findet der Aspekt des präventiven Opferschutzes bisher keine ausreichende Beachtung", bedauert Böhm.

Das Gericht interessiere sich für eine mögliche psychische Störung nur, wenn die Frage nach der Schuldfähigkeit geprüft wird und eine Unterbringung im Maßregelvollzug infrage kommt, also die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Die meisten Verurteilten landen im normalen Strafvollzug, in besonders schweren Fällen in Sicherungsverwahrung. Dabei wäre präventive Therapie auch vorsorglicher Opferschutz. Wer einen Betreuer hat, wird meist nicht (mehr) straffällig, das ist in der Fachwelt unbestritten. Prävention ist auch um ein Vielfaches billiger als Strafvollzug, das haben Untersuchungen in Kanada und in der Schweiz gezeigt. Die Forensische Ambulanz Badens unterhält an den Standorten der Justizvollzugsanstalten Offenburg, Mannheim, Adelsheim und Freiburg Behandlungsstützpunkte, die Soforthilfe leisten. Derzeit führen 17 Ärzte und Therapeuten "rückfallreduzierende psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen" an 250 Patienten durch, wie es in der Fachsprache heißt.

Ziel ist eine freiwillige Therapie des Entlassenen

Hilfe in Anspruch nehmen können auch "Tatgeneigte", also Menschen mit psychischer Störung, die, wenn sie sich über das Notfalltelefon melden, eventuell davon abgehalten werden können, überhaupt etwas anzustellen. Den größten Teil der Fälle bekommt die Forensische Ambulanz jedoch über die Vorstellungsweisungen. Ein Gericht kann einem entlassenen Straftäter im Rahmen der Führungsaufsicht auferlegen, sich bei einem Arzt oder Therapeuten regelmäßig vorzustellen. Etwa, weil der Straftäter sich der Therapie verweigert hat oder keine Neigung zeigt, an seinem Suchtproblem zu arbeiten. Die Vorstellungsweisung muss also befolgt werden und ihr Ziel ist eine ordentliche und freiwillige Therapie des Entlassenen.

In der Regel soll diese Vorstellung nicht länger als ein halbes Jahr dauern, "wer bis dahin keine Therapie macht, tut es später auch nicht", sagt Rüdiger Wulf, Referatsleiter im Landesjustizministerium. Sollte ein Gericht aber einen längeren Zeitraum anordnen, werde auch das von der Justizverwaltung bezahlt.

Anscheinend nicht überall, denn Georg Zwinger, der scheidende Landesgeschäftsführer der Bewährungshilfe Neustart, hält es "für höchstproblematisch, dass einzelne Verwaltungsleiter von Landgerichten die Finanzierung der Vorstellungsweisung nach Ablauf von einem halben Jahr verweigern." Dass somit gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter kurze Zeit nach ihrer Entlassung ohne Kontakt zu Therapeuten bleiben, hält Zwinger angesichts der geringen Kosten von 500 Euro pro Monat für falsch. Weil die großen Haftanstalten in Baden liegen, fallen praktisch nur dort die Vorstellungsweisungen an. Trotzdem bekommt nur die Stuttgarter Ambulanz einen jährlichen Landeszuschuss von 100.000 Euro. Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) hat den Karlsruher Bios-Vorsitzenden vertröstet, denn die Haushaltsplanung für 2012 sei "auf der Arbeitsebene bereits abgeschlossen". Der Justizminister dankt Böhm und seinen Helfern für die "engagierte und kompetente Arbeit" und bittet darum, diese einstweilen fortzusetzen. Die Behandlungsinitiative Opferschutz tut das, sie hat sogar unlängst auch in Freiburg eine feste Außenstelle eingerichtet.

Weitere Informationen unter http://bios-bw.de/aktuelles

Eine Gefängnisstrafe kommt teuer

Situation: Im Südwesten werden jährlich etwa 18.000 Personen inhaftiert, die Vollzugseinrichtungen waren 2010 durchschnittlich mit insgesamt 7500 Gefangenen belegt. In den 17 Justizvollzugsanstalten mit 24 Außenstellen gibt es rund 8200 Haftplätze. 2010 verbüßten 220 Personen eine lebenslange Freiheitsstrafe, 73 waren in Sicherungsverwahrung. Rund 2000 Personen stehen den Statistikern zufolge unter Führungsaufsicht.

Kosten: Ein 30-jähriger Sexualstraftäter kostet die Gesellschaft im Verlauf einer 30-jährigen Haft etwa 650.000 Euro. Für eine vierjährige Sozialtherapie muss der Staat 175.000 Euro aufbringen. Die Rund-um-die-Uhr-Überwachung eines nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entlassenen Sicherungsverwahrten durch die Polizei kostet pro Monat 150.000 Euro. Eine ambulante Therapie kostet im gleichen Zeitraum 6500 Euro. (Klaus Michael Böhm, Bios-Vorsitzender in „Kriminalistik“ Nr. 1/2011)

Etat: Für 2011 sind im Etat für die Justizvollzugsanstalten vorgesehen: Gesamtausgaben von 197,5 Millionen Euro, darunter 141,9 Millionen Euro für Personal, 34,4 Millionen Euro sächliche Verwaltungsausgaben, davon 7,4 Millionen Euro für Verpflegung und 8,1 Millionen Euro für die medizinische Versorgung.