Der Preis der Leipziger Buchmesse lässt sich nicht von merkantilen Rücksichten leiten, sondern führt die Leser in litarischen Hochlagen – soweit sie bei der Stange bleiben.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ob die Buchhändler über die Nominierungen für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse durchweg begeistert sind, kann man bezweifeln. Zumindest ihre händlerische Seite dürfte merklich besorgter dreinblicken als ihre dem anspruchsvollen Buch verpflichtete. Stärker als bei dem Pendant des Deutschen Buchpreises, der im Herbst in Frankfurt verliehen wird, lassen sich die sieben Juroren unter dem Vorsitz von Kristina Maidt-Zinke in Leipzig bei der mit insgesamt 60 000 Euro dotierten Auszeichnung allein von Qualitätskriterien leiten, merkantile Aspekte werden hintangestellt .

 

Was die Jury aus dem Berg der Neuerscheinungen gezogen hat, versteht sich nicht von selbst, und das in jeder Hinsicht. Manches wäre wohl übersehen worden, wie der bereits im Herbst erschienene Roman Isabel Fargo Coles, „Die grüne Grenze“, der an Orte mit Namen wie Sorge und Elend im ehemaligen Sperrgebiet der DDR führt, und durch die Nominierung eine zweite Chance erhält.

Alle der in der Kategorie Belletristik ausgewählten Titel verlangen dem Leser einiges ab: Geduld, Versenkung, Konzentration. Es sind Eigenschaften, die man in einer zerstreuten Gegenwart gut brauchen kann. Ohne sie wäre man in dem wohl merkwürdigsten Büroroman der Literaturgeschichte, Georg Kleins „Miakro“, verloren. Mit ihnen aber erschließt sich ein fantastischer Bezirk, an dessen befremdlicher, postapokalyptischer Beschaffenheit Kleins präzise Sprachschöpfung nicht den leisesten Zweifel lässt. Auch die fiktive Literaturmaschine, die Matthias Senkels „Dunkle Zahlen“ ausgespuckt haben soll, ein blitzgescheites Verwirrspiel aus der sowjetischen Gründerzeit der Informationstechnologie, arbeitet nicht gerade leichtgängig.

Wuchernde Form der Schönheit

Dass sich die Jury innerhalb dieses herausfordernden Feldes dann nicht für „Wie hoch die Wasser steigen“ entschieden hat, Anja Kampmanns Bohrinsel-Roman über die Einsamkeit moderner Arbeitswelten, sondern für Esther Kinskys „Hain“, zeugt von Konsequenz und Mut. Die Buchhändler freilich dürften noch ein bisschen mehr aufgeseufzt haben. Diese im Untertitel als „Geländeroman“ bezeichnete Folge elegischer Bildbeschreibungen, eine Art literarische Trauerarbeit, zeigt ein Italien fern aller Idyllen. Wie durch die Linse eines Objektivs hält die hochauflösende Sprache der Autorin Momente zwischen Leben und Tod, Natur und zivilisatorischem Verfall, Hässlichkeit und einer darin wuchernden, eigentümlichen Form der Schönheit fest.

Lieber als auf historischen Monumenten verweilt ihr Blick auf dem Arrangement einer wilden Müllhalde. „Zerlebtes, Abgestoßenes hing, im Bergabrollen von den Stämmen aufgehalten, quer zwischen Baum und Strauch: Möbel, Maschinen, Matratzen; dünnes Moos kroch über die traumverfleckten Bezüge.“

Das Gelände wird lesbar als ein Text, in dem sich eigenes früheres Erleben, die ferneren Geschichten zurückliegender Kriege mit den Folgen näherliegender kreuzen. Immer wieder ziehen die zeitgenössischen Nomaden der Hoffnungslosigkeit durch das Bild, Pendler-, Schüler- und Flüchtlingsbusse stöhnen, schwarze Wolken ausstoßend, durch die Berge. Und in die vielstimmige Tonspur indischer Einwanderer, somalischer Migranten und osteuropäischer Billigarbeiter peitscht der tödliche Knall der Jagd.

Die Veduten, die Kinsky aus einem Zwischenreich von Erinnerung und Gegenwart aus Italien mitgebracht hat, gleichen nicht denen früherer Italienreisender, aber kommunizieren gleichwohl mit einem Unterstrom der Tradition. Ihre strenge gegenwärtige Kunst der Bildbeschreibung treibt hinter dem sentimentalen touristischen Blick jenes alte Wissen hervor, dass in Arkadien schon immer der Tod zu Hause war.

In der Kategorie Übersetzung wurden Sabine Stöhr und Juri Durkot ausgezeichnet. Ihre Übertragung von Serhij Zhadans Roman „Internat“ bringt den vergessenen Krieg im äußersten Osten der Ukraine ins Bewusstsein der deutschen Leser. Karl Schlögels „Das sowjetische Jahrhundert“ erhielt den Preis für das beste Sachbuch. Er ruft in Erinnerung, wie man in der Sowjetunion kochte, reiste und starb. Die Vorgeschichte von Putins Russland, eine Welt der Wunder und Schrecken – und allemal eine Alternative für überforderte Belletristik-Leser.

Schön wäre es, man könnte das Qualitätvolle mit dem Merkantilen versöhnen. Das aber liegt in der Hand der Leser und Leserinnen.