Der Stuttgarter Chemiker Johannes Kästner will mittels Computersimulation einen Effekt untersuchen, der Teilchen an scheinbar unmöglichen Orten sein lässt. Für seine Forschungsarbeiten erhält er den Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) in Höhe von knapp zwei Millionen Euro.

Stuttgart - Johannes Kästner ist ein Chemiker ohne Labor. Diesen vordergründigen Mangel empfindet er als Privileg: „Knall und Rauch, was die meisten Menschen mit Chemie verbinden, ist nicht meins“, sagt der 37-jährige Stuttgarter Professor für Theoretische Chemie. Kästner experimentiert nicht, er rechnet: chemische Reaktionen finden bei ihm im Computer statt. Die meisten Menschen schauen zudem ratlos, wenn er von seinem Forschungsobjekt berichtet, dem quantenmechanischen Tunneleffekt, für dessen Untersuchung er jüngst einen Consolidator Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) in Höhe von knapp zwei Millionen Euro bekommen hat.

 

Wenn ihn seine Freunde fragen, was er da eigentlich macht, erklärt Kästner das anhand eines Balls, den man gegen eine Wand wirft. Im realen Leben prallt er ab und fliegt zurück. Wäre dieser Ball nun so klein wie ein Atom, und würde die Wand ebenfalls den Regeln der Quantenphysik gehorchen, würde der Ball ab und zu durch die Wand hindurch fliegen als wäre dort ein Tunnel. Wann, das kann keiner vorhersagen. Und in der Quantenwelt weiß man auch nie, wann sich der Ball an welcher Position zwischen Abwurfort und Ziel befindet. Spätestens an dieser Stelle der Erzählung lächelt Kästner geheimnisvoll wie ein Zauberer. Was für ihn so alltäglich ist, nicht zu wissen, ob ein Teilchen nun hier oder da oder gleichzeitig hier und da ist, dieses Unvorstellbare lässt seine Mitmenschen staunen.

Aber Kästner ist keiner, der sich mit Unerklärbarem abfindet. Deshalb versucht er, die Rolle des Tunneleffekts in chemischen Reaktionen mittels Computersimulationen zu identifizieren. „Die nächste Frage ist dann meistens: Und wozu ist das gut?“, sagt er und lacht. Meist eine schwierige Frage für Grundlagenforscher. „Dieser Prozess taucht überall auf, und wir Menschen verstehen ihn nicht.“ Für Kästner gibt es nichts naheliegenderes, als das zu erforschen. Beispielsweise macht der Tunneleffekt die Photosynthese von Pflanzen erst möglich. Er ist dafür verantwortlich, dass manche Reaktionen schneller ablaufen, weil die Teilchen den direkten, eigentlich unmöglichen Weg durch eine Energiewand nehmen, anstatt außenherum, „sie tunneln“, wie Kästner sagt. Der Effekt begünstigt manche Reaktionen in extremer Kälte , die jene sehr träge bis unmöglich macht.

Chemie in mathematischen Formeln

Solche Vorgänge lassen sich experimentell schwer überprüfen. Kälte setzt beispielsweise Pflanzen zu, so dass ein Experiment zur Photosynthese nur in einem sehr engen Temperaturbereich möglich ist. In der Simulation hingegen kann man verschiedene Bedingungen überprüfen und den Tunneleffekt ein- und ausschalten. Dafür muss Kästner die Hürde meistern, alles in mathematische Formeln zu fassen und zu programmieren. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Stuttgarter Exzellenzcluster SimTech findet er wie geschaffen für Leute wie ihn: „Informatiker können Algorithmen effizienter programmieren, und Mathematiker haben die meisten Dinge schon gelöst, die wir brauchen.“ Nur als Chemiker würde er nicht auf diese Lösung kommen – außer im direkten Gespräch: „Mein Problem gibt es in der Chemikersprache, die Lösung in der Mathematikersprache.“ Und auch diese Sache mit dem Problem unterscheidet Kästner von einem Großteil der Menschen. Er mag Probleme, wie er grinsend gesteht: „Ein wohldefiniertes Problem ist etwas schönes für einen Wissenschaftler.“

Schon in Kästners Person verschwimmen die Fachgrenzen: er hat in Wien Chemie studiert, im Harz in Physik promoviert, im Ruhrgebiet und in Daresbury (Großbrittanien) in theoretischer Chemie geforscht. Als vor sechs Jahren eine Juniorprofessur in seinem Bereich in Stutgart ausgeschrieben wurde, zögerte Kästner nicht lange und zog mit Frau und Kindern um: „Stuttgart hat einen guten Ruf im Bereich Simulation.“ Mit seiner Gruppe, die sich dank der ERC-Förderung in den nächsten Monaten von fünf auf zehn Forscher verdoppeln wird, will Kästner, der inzwischen ordentlicher Professor ist, den Tunneleffekt weiter ergründen. Dafür hat er sich auch zwei Astrophysiker ins Boot geholt. Denn im eiskalten Weltraum ermöglicht der Tunneleffekt Reaktionen zwischen den Sternen. „Ich versuche immer Leute anzustellen, von denen ich noch etwas lernen kann“, sagt er. Aus dem gemeinsamen Wissen ergeben sich neue Fragestellungen, auf die keiner allein gekommen wäre, Neue, wohldefinierte Probleme. Kästner ist überzeugt: „Das ist die produktivste Art, Wissenschaft zu machen.“ Dabei kommt ihm die schwäbische Mentalität entgegen: „Die Leute haben Verständnis dafür, dass man Probleme im Detail gelöst haben will.“ Eine solche „Tüftlereinstellung“ sei ihm sonst nirgendwo auf der Welt begegnet.