Nicht nur aufgrund seiner 17 Tore in elf Spielen ist Luis Suárez derzeit vielleicht der weltbeste Stürmer. Liverpools Enfant terrible ist auch ein hervorragender Vorbereiter und für jede Abwehrreihe eine besondere Herausforderung.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

London - Ein paar Minuten ist es her, dass dieser Mann die Tottenham Hotspurs gedemütigt hat. Das Stadion an der White Hart Lane hat sich schnell geleert. Nur wenige sind geblieben und schicken wütende Tiraden auf den Rasen, während die Fans des FC Liverpool ausgelassen feiern. Als sich Luis Alberto Suárez Díaz auf den Weg in die Katakomben macht, stellen die wenigen Verbliebenen Spurs-Fans das Zetern ein. Sie applaudieren dem, der sie erschossen hat. Dem Mann, der die Spurs aus der Spur gebracht hat – Luis Suárez. Zwei Tore hat der alles überragende Stürmer des FC Liverpool beim bemerkenswerten 5:0 in Tottenham am Sonntagabend erzielt, an den anderen drei Treffern war er direkt beteiligt. Unglaubliche 17 Tore hat der Uruguayer damit in elf Spielen erzielt, die mit Abstand beste Quote in Europa.

 

Wenig später steht Luis Suárez in der Interviewzone. Er hat gerade ein paar Worte mit Andre Villas-Boas gewechselt, dem Trainer der Spurs, der am Tag darauf entlassen werden wird, umarmt haben sie sich. „Ich bin ein Stürmer und ich versuche immer zu treffen“, sagt Suárez bescheiden: „Aber das Wichtigste war der Auftritt des Teams.“ Die Mannschaft – über die spricht auch Brendan Rodgers, Liverpools Coach. Er und Suárez haben harte Zeiten hinter sich, nicht immer kamen Rodgers und sein Enfant terrible gut miteinander aus. Er sei daran gewachsen, sagt der Trainer – und lobt das Team für einen starken Auftritt in London. „Wir waren wie Tiere“, sagt er. Sie waren so wie der Mann mit der Nummer „7“ immer ist. Bissig. Heiß. Aggressiv. An der Grenze.

Dank Suárez darf Liverpool träumen

Die Fans der „Reds“ haben den Depeche-Mode-Song „Just can’t get enough“ (Ich kann nicht genug kriegen) zu einer Suárez-Hymne umgedichtet, und so sehr sich das Team entwickelt hat – der rote Planet Liverpool dreht sich vor allem um Luis Suárez. Dank ihm darf Liverpool mal wieder träumen. Sie sind hinter Arsenal (35 Punkte) Tabellenzweiter (33). Der Fünfte Everton hat 31 Punkte, Manchester United erst 25. Es ist eine Saison ohne klare Struktur, die spannendste der Premier League seit Jahren. Es ist was drin für den FC Liverpool um diesen entfesselten Luis Suárez, der wie eine Naturgewalt seit Wochen durch die gegnerischen Abwehrreihen fegt, Verwüstung anrichtet, Chaos hinterlässt.

Messi? Ronaldo? Ribéry? Die Fußballwelt diskutiert seit Wochen hysterisch, wer die Trophäe Ballon d’Or als Weltfußballer bekommen solle. Luis Suárez wird es nicht, aber der Mann aus Uruguay ist in diesen Wochen wohl der formstärkste Stürmer der Welt. Er hat das Momentum, allein in den zurückliegenden drei Premier-League-Spielen traf er achtmal. Vielleicht ist er aktuell sogar der beste Fußballer auf diesem Planeten.

Steven Gerrard ist auch an der White Hart Lane im Norden Londons gewesen, in Schlips und Kragen. Liverpools Ikone ist verletzt, in seiner Abwesenheit führt Suárez die „Reds“ als Kapitän auf das Spielfeld. Gerrard sah ein großes Spiel mit einem großen Suárez: „Er ist der beste Spieler der Welt – und ich sage das nicht, weil er ein Mannschaftskamerad von mir ist.“

Technisch stark und taktisch gut

Suárez, 26, ist ein Stürmer moderner Prägung, technisch stark, taktisch gut, er arbeitet viel und leidenschaftlich. Er lässt sich zurückfallen, er weicht auf die Flügel aus, er verteilt Bälle. Er ist Vollstrecker und Vorbereiter. Beim Tor zum 3:0 chippt er einen Ball von der rechten Strafraumgrenze in den Rücken der Abwehr, wo Jon Flanagan die Flanke verwertet. Beim 5:0 spielt er im perfekten Moment steil in den Raum zwischen zwei Abwehrspieler, so dass Raheem Sterling alleine auf das Tor zulaufen kann. Suárez ist Richter und Henker.

Manchmal auch der Angeklagte. Die ersten fünf Partien kam er nicht zum Einsatz, weil er noch eine Sperre absaß: In der Vorsaison hatte er einen Gegenspieler gebissen und wurde zehn Spiele gesperrt. Ende 2011 waren es acht, weil er Patrice Evra rassistisch beleidigt haben soll – was Suárez bestreitet. Beim Rückspiel gegen Manchester United kam es erneut zum Eklat, als er Evra den Handschlag verweigerte. Auch in seiner Zeit bei Ajax Amsterdam war er lange gesperrt, weil er einen Gegenspieler in die Schulter gebissen hatte. Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika verhinderte er im Viertelfinale gegen Ghana mit einem Handspiel in der Schlussminute der Verlängerung ein Gegentor, den Strafstoß verschoss Ghana. Im Elfmeterschießen setzte sich dann Uruguay durch. Ein begnadeter Spieler. Ein schwieriger Charakter. Gottes Werk! Teufels Beitrag?

„Er ist ein Engel“

Arsene Wenger, Trainer des FC Arsenal, sagt: „Er ist ein Engel. Er verhält sich im Leben abseits des Platzes tadellos. Aber wenn er auf dem Rasen ist, wird er zu einem Teufelskerl.“ Wenger will Suárez schon lange in sein Team holen. Im Sommer scheiterte er. Suárez wollte den Verein verlassen, Liverpool weigerte sich und blieb standhaft am Ende einer ziemlichen Posse. Geld schießt keine Tore. Luis Suárez schon. Doch der Kampf geht weiter. Arsenal lässt nicht locker, Real Madrid gilt als interessiert, jeder andere Topclub praktisch auch. Der Fluch der guten Tore aus Liverpooler Sicht.

Nur einmal hatte Luis Suárez übrigens an der White Hart Lane das Nachsehen. Als er vor Anpfiff den Einlaufkindern die Hand gab, zog ein Mädchen ihre flugs weg und drehte ihm grinsend eine lange Nase. Seine Rache auf dem Feld war dann fürchterlich.