Volker Lösch inszeniert in der Arena "Homers Ilias - Achill in Afghanistan" - mit jeder Menge Theaterblut und nahkampfgeeigneten Nacktstramplern.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Jäh kracht eine Ladung von Stiefeln auf die Bühne. Unheil, Tod, Vernichtung besetzen die beklommene Stille nach dem Knall. Dann beginnt das Zählen und Ordnen, die Totenklage. Die Liste der in Afghanistan gefallenen Bundeswehr-Soldaten wird verlesen, Name, Dienstgrad, Alter. Paar zu Paar finden die zerstreuten Stiefel zusammen und bilden ein gespenstisch sich in Reih und Glied sammelndes Totenheer. Es ist das stärkste, wenn auch beileibe nicht das drastischste Bild in Volker Löschs „Ilias“-Paraphrase, die die mythische Urkatastrophe des trojanischen Kriegs mit der höchst realen des Krieges in Afghanistan überblendet.

 

Schmerzhaft konkret wird hier für einen Augenblick der kollektive Befund, den Löschs chorische Theatersprache unermüdlich beschwört: denen Ausdruck zu verleihen, die sonst nur statistisch präsent sind – den Vielen, den Soldaten, den Toten. Ihre wilden Geschichten aus den Schmerzzonen der Gegenwart sollen die lichten Meistererzählungen herausfordern, aus denen die Gesellschaft ihr kulturelles Selbstbewusstsein und ihren zivilisatorischen Dünkel bezieht. Das ist der Plan, ein Schlachtplan in diesem Fall. Aber der Krieg folgt seiner eigenen Logik.

Achill, die Tötungsmaschine

In Troja wabert das Kampfgeschehen in seinem neunten Jahr richtungslos verheerend dahin: weil sich die Götter nicht entscheiden können, weil Götter wie Krieger ihre Hormone nicht im Griff haben und weil Achill, die wohl schlagkräftigste, aber auch empfindlichste Tötungsmaschine der Literaturgeschichte, schmollt. Agamemnon macht ihm seine weibliche Kriegsbeute streitig. Achill ist für die Griechen strategisch so etwas wie der Leopard II für die deutschen Soldaten am Hindukusch. Dieser Vergleich mag in der Sache durchaus anfechtbar erscheinen, illustriert aber treffend wie hier Korrespondenzen geknüpft werden.

Das Waffensystem Achill oder der Streit, wer nun den längsten Speer habe, gibt das Signal für eines jener Statements, die das demoskopische Dramaturgieteam um Beate Seidel aus Gesprächen mit Afghanistan-Rückkehrern gesammelt hat. Und schon sind etwa die Schauspieler Till Wonka, Sebastian Kowski oder Mike Adler nicht mehr Achill, Agamemnon oder Patroklos, sondern sagen Sätze wie „Wir brauchen den Leopard II“ oder skandieren das außenpolitische Kredo der BUndeskanzelrin: Politik und Handeln anderer Nationen seien so zu beeinflussen, dass damit den Interessen der eigenen Nation gedient sei.

Macht, Ehre, Gräuel, Angst, Tod

So wird der Themenkreis des Krieges abgeschritten, Macht, Ehre, Gräuel, Angst und Tod. Die über szenische Tableaus oder chorische Rezitationen skizzierte epische Handlung liefert jeweils das Stichwort für eine zeitgenössische Entsprechung. Epos und Demos kommunizieren miteinander, hier das seinerseits von philologischem Schwulst entschlackte Korpus der Ilias-Übertragung von Raoul Schrott, dort das Material der dramaturgischen Meinungsforscher, die Lösch nach bewährtem Muster ins Feld geschickt hat. Dabei zeigt sich die Eigenart des epischen Textes, seine große objektive Distanz, zunächst durchaus der Kollektivästhetik des chorischen Berichts zugänglich. Das in den letzten Arbeiten des Regisseurs immer mehr zur Marotte erstarrte Verfahren wirkt weniger aufgesetzt und heterogen, vielleicht auch, weil diesmal Schauspieler statt Laien den Part der Chöre übernehmen.

"Einer für alle, alle für einen"

Doch so zuverlässig der ausgeklügelte Reiz-Reaktionsmechanismus weit auseinanderliegende Zeit- und Sinnschichten miteinander verbindet, so blutleer bleiben die Gestalten, die ihn auf Carola Reuthers leer gefegter Aufmarschbühne verbürgen. Zwölf schwer bewaffnete Todesraben sind es, in morbid-spätfeudalistisch anmutenden schwarzen Roben, von Cary Gayler aus einem westöstlichen, zivil-militärischen, männlich-weiblichen Formenfundus kunstvoll zusammengeschneidert, sie schwärmen gemeinsam aus, flattern bedrohlich rauschend daher, teilen sich in Gruppen, göttliche, heroische, menschliche – und gleichen einander doch wie ein Rabenei dem anderen.

„Einer für alle, alle für einen“, diese Zusammenhaltsphrase aus einem der Gesprächsprotokolle trifft unfreiwillig das passepartouthafte von Löschs Theaterfeldzug. Hier kann jeder jeden spielen, hier gibt jeder gleichviel Gas, ein Ton forscher Grunderregung deckt alle Gefühlslagen ab, so wie im Prinzip jeder beliebige andere Kriegstext Lösch die erwarteten Stichworte liefern könnte. Die Schauspieler sind chronisch unterfordert, müssen sich an rhythmischen Tücken abarbeiten statt an den Kanten ihrer Charaktere. Neben den schon Genannten können Bijan Zamani, Ralph Kinkel, Svenja Wasser und all die anderen mehr als lebende Bilder stellen und erklären. Doch hier sind die Kriege, ihrer genussvoll ausgemalten Exzesse zum Trotz, in erster Linie Wortgefechte. Weltpolitisch läge darin pazifizierende Kraft, theaterpraktisch führt das auf Dauer nur zu Langeweile.

Ist da Differenz nicht bedeutsamer als Analogie?

Wo, jenseits schnellfertiger Anti-Kriegssuggestionen, liegt überhaupt der Erkenntnisgewinn, stellt man den komplexen, an politischen Widersprüchen und Problemen reichen Afghanistan-Einsatz vor die überzeitliche Folie des Trojanischen Kriegs? Ist da Differenz nicht bedeutsamer als Analogie, das Detail nicht aussagekräftiger als exemplarischer Furor, das Programmheft nicht tauglicher als die Bühne? Die Gegenwart im Licht klassischer Texte zu deuten, hat, ungeachtet der auf Aktualisierung und Provokation gerichteten Intention, etwas bildungsbürgerlichen Theatererwartungen zutiefst Konformes. Und vielleicht ist es eben dieses unterschwellig wahrgenommene Einverständnis, das Lösch, den Didaktiker und pädagogischen Schnittmusterschneider, immer wieder zu Lösch dem Berserker werden lässt.

Wenn seine Figuren schon nicht leben, sollen sie wenigstens bluten. Und so vertauschen zum Showdown zwischen dem trojanischen Waffensystem Hektor und dem überlegenen griechischen Achill Löschs Leute ihren anzüglichen Todesflitter mit nahkampfgeeigneten Nacktstramplern. Genug aufgeklärt. Jetzt geht’s zur Sache. Die letzte Runde ein Schlammcatchen in Innereien. Eine Ernte Roter Bete muss daran glauben. Man kennt das bereits: das Schlachtfest als Löschs privates Erntedankfest. Danach ist der Krieg aus, zumindest im Theater. Erleichterter Beifall.

Aufführungen: 16. bis 18. und 20. bis 23. Oktober.