Stuttgarter Experiment: Schauspiel und Ballett bringen Lars von Triers Film auf die Bühne: „Dancer in the Dark“. Wo im Kino Björk als verzweifelte Fabrikarbeiterin Selma brillierte, setzt in Stuttgart Uta Hannig Akzente.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Dancer in the Dark“ am Staatstheater Stuttgart? Man mache sich nichts vor, eigentlich spricht alles gegen eine solche Idee. Alles! Denn die Vorlage dafür ist nun mal einer der besten und bewegendsten Filme jüngerer Zeit, Lars von Triers aufwühlendes Drama aus dem Jahr 2000, eine Sternstunde des Kinos. Und in der Titelrolle der langsam erblindenden Fabrikarbeiterin Selma, die ihre Ersparnisse und ihr Leben opfert, damit ihr Sohn operiert werden kann: Björk. Die isländische Sängerin versank damals geradezu in ihrer Rolle und spielte sich beinahe um Leib und Leben. Ihr Auftritt, ihre Erscheinung, ihr Lächeln, ihre Verzweiflung, ihre Lieder – wer diesen Film je gesehen hat, wird seine Bilder nie mehr ganz aus der Erinnerung löschen können. Was soll uns ein Bühnenaufguss in Stuttgart da bringen?

 

Und noch dazu das Ganze als künstlerische Koproduktion der Sparten Schauspiel und Tanz! Obwohl man doch ganz genau weiß, dass Freunden des Schauspiels in solchen Koproduktionen viel zu viel getanzt und Freunden des Tanzes an gleicher Stelle viel zu viel geredet, womöglich gar geschrien und geschossen wird? Und wenn dann gar wenige Wochen vor der Premiere noch der federführende Choreograf erkrankt und ein anderer, sehr junger Choreograf mitten in die Produktion einsteigen muss, ist es dann nicht allerhöchste Zeit, die Erwartungen ganz niedrig zu halten?

Der Zuschauer vergisst alle Erwartungen

Nun, um es abzukürzen: alle Voraberwartungen seiner Welt hat der Zuschauer dieser Stuttgarter Produktion nach wenigen Augenblicken vergessen – im wahrsten Sinne des Wortes: Eine grell aufleuchtende Scheinwerferfront löscht alle Bilder aus dem Kurzzeitspeicher seiner Netzhaut. Aus dem tiefsten Nichts, das so entsteht, tritt auf der Bühne langsam eine bizarre Kunstwelt hervor, in der unzählige kleine Mikrofone an Strippen vom Himmel hängen und in der unsichtbare Lichter eine kalte, enge Welt der Schatten und Schraffuren erschaffen. Menschen gibt es in dieser Welt schon, aber es sind seltsam sich bewegende Menschen. Und es gibt Musik, mal dröhnend und rhythmisch schlagend wie von Maschinen, dann wieder versetzt mit kleinen Liedzeilen wie aus schönen alten amerikanischen Spielfilmen, das ganze aber knisternd und knarzend wie von einem Plattenspieler, dessen Nadel hoffnungslos hakt und springt, hakt und wieder springt.

Der Tanz als Gegenwelt zum bedrückenden Alltag der Fabrikarbeiterin Selma – der Regisseur Christian Brey und die beiden hier engagierten Stuttgarter Choreografen Louis Stiens und Marco Goecke wollten zweifellos ganz unbedingt der Versuchung widerstehen, Schauspiel und Ballett als zwei strikt voneinander geschiedene Parallelwelten auf die Bühne zu bringen. Schauspiel und Tanz verzahnen sich vielmehr von Anfang an miteinander, Schauspieler und Tänzer sind in wiederkehrenden Sequenzen von Schritten und Bewegungen miteinander vereint. Die Mechanik der Maschinen, die Performance der Musicalproben, dies alles im ständig sich wandelnden Kunstlicht, mit immer neuen Tönen – wo sind wir hier eigentlich? Auf welchem Planeten spielt dies alles?

Wer den Film nicht kennt, tut sich schwer

Keine Frage: wer zu jenem Teil des Publikums zählt, der den Film „Dancer in the Dark“ nicht kennt, wird sicher seine Mühe haben, einen roten Faden in dieser Geschichte zu finden. Regisseur und Choreografen haben die Stückfassung von Patrick Ellsworth ausgeweidet, haben von vielen Textseiten nur wenige Bilder, wenige Kernsätze übrig gelassen. Viele kleine Geschichten dieser so großen Geschichte schrumpfen zum bloßen Zitat für Kontext-Kundige, viele Figuren bleiben trotz guter Besetzung riskant schemenhaft; Augenarzt, Fabrikvorarbeiter und Rechtsanwalt sowieso, aber selbst für Selmas beste Freundin Kathy (Dorothea Arnold) gilt das.

Dafür erkennen wir zwei Figuren im Mittelpunkt umso klarer und deutlicher: Ute Hannig als Selma, die mit größter Konzentration aus kleinen Gesten heraus zu bezwingender Präsenz findet, ganz im Fluss ihrer inzwischen reifen Schauspielkunst. Und an ihrer Seite als Sohn Gene: der erst 15-jährige Alessandro Giaquinto, ein Mitglied der John-Cranko-Schule, in reiner Tanzrolle, jung, schlaksig, impulsiv und zerbrechlich zugleich. Wort und Nicht-Wort, Tanz und Nicht-Tanz treten in diesen beiden Figuren in ein Gespräch, bei dem man glaubt, aus den vielen Kabeln auf der Bühne Spannungsfunken fliegen zu sehen.

Das Leben versehrt, so oder so

Es gibt sorgsam austarierte und genau auf den Punkt inszenierte Spielszenen (vor allem zwischen Ute Hannig und Jonas Fürstenau als Polizist Bill). Es gibt weit ausgreifende Ensembleszenen der Stuttgarter Kompanie, an der einzigen zumindest leise von gegenseitiger Liebe flüsternden Szene des Abends auch einen wundersam fragilen Pas de deux – der aber wie die gesamte Choreografie des Abends davon geprägt ist, dass weder der junge Louis Stiens noch sein Lehrer Marco Goecke in ihrer Tanzsprache irgendeiner oberflächlichen Körperverherrlichung frönen. Ihre Körper zappeln und beben, winden und biegen sich. Das Leben versehrt, so oder so.

Nach der Pause nimmt die Fragmentierung des Geschehens noch zu. Man hat den Eindruck, da hätte jemand die Seiten von „Dancer in the Dark“ gleich bündelweise vernichtet, um einen halben Büchner draus zu machen. Was bleibt, sind Szenen des Schmerzes, der Einsamkeit, des Lebenskampfes, sind Zwiesprache zwischen Selma und der wie ein zweites Ich agierenden Tänzerin Angelina Zuccarini, während von der Tonspur nur noch das Knistern und Knacken einer leeren Langspielplatte zu hören sind. Dass all dies in einer Todeszelle spielt, dass Zuccarini die nunmehr blinde Selma halten wird auf dem Schafott, bevor sich unten der Boden öffnet – all dies kann, aber muss man en détail nicht wissen.

Welche Geschichte wurde da erzählt?

Nein, wirklich, man muss es nicht wissen. Denn dass Schauspieler und Tänzer hier vereint sind in einer Performance von existenzieller Wucht, das vermittelt sich doch eben fern aller Filmvorlagen und kraft eigener künstlerischer Potenz. Ein finales Aufblitzen der Scheinwerfer löscht wieder alle Bilder auf der Netzhaut der Zuschauer – und lässt sie zumindest am Premierenabend lange mit dem Beifall zögern. Ja, was haben wir da gesehen? Welche Geschichte wurde uns da erzählt? Schauspiel- und Ballettfreunde, aus ihren Sehritualen gerissen und eine produktive Weile lang mal nur sich selbst überlassen. Theater. Kunst. Eine Wahrheit, vielleicht zum Greifen nah. Brey. Stiens. Goecke. Vieles sprach dagegen. Ein Trotzdem. Und wer so wagt, der gewinnt.