Einhundertundsieben Positionen umfasst die Liste mit Uraufführungen, die das Stuttgarter Ballett realisiert hat, seit Reid Anderson 1996 als Intendant angetreten ist. Eine stolze Bilanz, findet Anderson, und fügt nun „Die fantastischen Fünf“ hinzu.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Einhundertundsieben Positionen umfasst die Liste mit Uraufführungen, die das Stuttgarter Ballett realisiert hat, seit Reid Anderson 1996 als Intendant angetreten ist. Da sind kurze Gala-Preziosen ebenso vermerkt wie abendfüllende Handlungsballette, da steht „PS“, Katarzyna Kozielskas Beitrag zum Tennis-Turnier in der Porsche-Arena, gleich neben Demis Volpis Blick auf Oscar Wildes „Salome“ im Opernhaus.

 

Um fünf weitere Ballette wird Reid Andersons Bilanz an diesem Freitag anwachsen: In seinem Auftrag choreografieren die Stuttgarter Marco Goecke, Katarzyna Kozielska, Louis Stiens, Roman Novitzky und Fabio Adorisio ein letztes Mal. Und am Ende von Andersons 22. und letzter Spielzeit als Intendant des Stuttgarter Balletts wird im Rahmen der Festwoche, mit der er sich von Kompanie und Publikum verabschiedet, sicherlich das eine oder andere Überraschungsballettgeschenk dazugekommen sein.

Fünf Uraufführungen pro Saison sind Andersons Schnitt

Umgerechnet auf Andersons 22 Spielzeiten macht das rund fünf Uraufführungen pro Saison – eine Bilanz, auf die der scheidende Intendant zu Recht stolz ist. „Soweit ich weiß, gibt es keine andere Kompanie, die so viele Uraufführungen wagt“, sagt Reid Anderson – und erinnert an die von John Cranko begründete Tradition, die er als Intendant beibehalten wollte. „Seit ich 1969 als Tänzer zum Stuttgarter Ballett kam, kenne ich die Situation nicht anders: Immer war da etwas Neues, immer war da mit Künstlern wie William Forsythe, Uwe Scholz oder Jirí Kylián eine kreative Atmosphäre, die sprudelte. Und genauso wollte ich es auch haben.“ John Cranko habe andere Choreografen nie als Konkurrenz verstanden, sondern als Bereicherung, erzählt Anderson. Deshalb habe Cranko Nachwuchstalente wie John Neumeier auf dieselbe Weise gefördert, wie er es als junger Choreograf in London selbst erlebt hatte. „Das wollte er weitergeben“, sagt Anderson.

„Die Fantastischen Fünf“ nennt Anderson die Abschiedsrunde in seinem 22-jährigen Uraufführungsmarathon. Alle daran beteiligten Künstler konnten bei den Choreografen-Abenden der Noverre-Gesellschaft sich und das Schrittemachen ausprobieren und wurden dort von Reid Anderson entdeckt und gefördert. Die einen wie Fabio Adorisio erst jüngst, andere wie Katarzyna Kozielska schon vor Jahren. Und Marco Goecke zeigt als Stuttgarter Haus-Choreograf und designierter Ballettdirektor, was von der Stuttgarter Plattform aus alles möglich ist.

Wiedersehen erwünscht

Wie fantastisch die Ausbeute der Stuttgarter Leidenschaft für Neues ist, steht auf einem anderen Blatt. Wer erinnert sich noch an Jean-Grand Maîtres „Exilium“, an Matjash Mrozewskis „Avatar“, an Sabrina Matthews „Veil“? Verblüffenderweise überwiegen in Reid Andersons Uraufführungsbilanz jedoch Namen und Ballette, denen man jederzeit gerne wiederbegegnen würde: „Ashes“ von Daniela Kurz ebenso wie Wayne McGregors „Yantra“. Nicht wenige Ballettfans bedauerten deshalb, dass die meisten Stücke nur eine Saison lang zu sehen waren und dann auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Eine Neubefragung im Licht der Gegenwart hätte man sich zum Beispiel für die vielen Arbeiten Marco Goeckes im Stuttgarter Repertoire gewünscht. Nur eine kleine Wiedergutmachung war da der Abend „Skizzen“, mit dem Reid Anderson während der Festwoche zu seinem 20-Jahr-Dienstjubiläum im Schnelldurchlauf an die vielen Uraufführungen seiner Intendanz erinnerte.

Verblüffend ist im Rückblick vor allem Reid Andersons sicheres Gespür für choreografische Qualität. Bereits in seiner ersten Stuttgarter Spielzeit setzte er nicht nur auf die alten Bekannten Uwe Scholz und David Bintley, sondern betrat mit Jean-Grand-Maître, Martino Müller und Mauro Bigonzetti Neuland. Vor allem Bigonzettis Stuttgarter Debüt „Kazimir’s Colours“ erwies sich als Glücksgriff, der zentrale Pas de deux ist immer noch bei Galas beliebt – und der italienische Choreograf eroberte von Stuttgart aus die europäischen Bühnen. Ein Ballettmeister, den er aus Toronto kannte und der nach Reggio Emilia gewechselt war, gab Anderson damals den entscheidenden Tipp. „Auf dem Weg nach Stuttgart bin ich über Italien geflogen, um mir ein Ballett Bigonzettis anzuschauen. Das Stück hat mir gut gefallen – und auch der Mensch dahinter war mir sofort sympathisch“, erzählt Anderson, der fortan im Jahresrhythmus neue Namen für die Ballettwelt entdeckte: Christian Spuck, Kevin O’Day, James Sutherland, Dominique Dumais, Douglas Lee und Wayne McGregor folgten bis 2002.

Noverre-Abend als Höhepunkt

Eine „riesige Bedeutung“ habe die Arbeit der Noverre-Gesellschaft in diesem Zusammenhang, betont Reid Anderson vor der Premiere von „Die Fantastischen Fünf“. „Die Choreografen-Abende sind inzwischen unter Künstlern weit über Stuttgart hinaus berühmt und beim Publikum so begehrt, dass wir eine richtige Vorstellung daraus gemacht haben. Das ist ein Höhepunkt der Spielzeit – und für meine Arbeit immer eine große Hilfe gewesen“, sagt Anderson. Dass er nun die letzten Premieren in seinem Auftrag erlebt, macht ihn aber nur ein wenig wehmütig. „Ich freue mich auf meine Zukunft“, sagt er. Wie die aussehen könnte, hat er eben in Oslo, Boston und Paris erprobt, wo er Ballette John Crankos einstudierte. „Mein Abschied vom Stuttgarter Ballett kommt ja nicht überraschend, sondern weil ich das so will. Das Timing ist mein Timing. Deshalb bin ich gut dran und gut drauf.“

Hier tanzen „Die Fantastischen Fünf“

Als „Überraschungsgeschenk“ für sich selbst bezeichnet Reid Anderson den neuen Ballettabend „Die Fantastischen Fünf“, der an diesem Freitag, 23. März 2018, um 19 Uhr im Schauspielhaus Premiere hat. Proben hat der Intendant nämlich keine gesehen – er schaut wie das Publikum gespannt auf die Bühne.

Zu sehen sind dort: „Under the Surface“ von Roman Novitzky (zu einer Komposition von Marc Strobel), „Or noir“ von Fabio Adorisio (zu einer Komposition von Nicky Sohn), „Take Your Pleasure Seriously“ von Katarzyna Kozielska (zu Musik von Johann Sebastian Bach und Borut Kržišnik), „Skinny“ von Louis Stiens (zu Musik von Halcyon Veil) und „Almost Blue“ von Marco Goecke (zu Jazz-Musik „Live at Montreux“).

Weitere Termine am: 28. März, 10, 21., 25. und 29. April sowie am 17. Juli.