Jetzt weht aber mal ein frischer Wind: Mit drei Uraufführungen feiert das Stuttgarter Ballett die hundertsten Geburtstag von deutscher Demokratie und Weimarer Bauhaus. Schon der Titel des Ballettabends im Schauspielhaus zeigt, wo es lang gehen soll: „Aufbruch!“

Stuttgart - Halb liegend, ein Bein ausgestreckt, das andere eingewinkelt, die Hände zu Krallen geformt, so robbt sich die Frau in den goldenen Pumphosen zu den Objekten ihrer Begierde: drei Lampen im berühmten Halbkugel-Design von Wilhelm Wagenfeld. Links von ihr tanzt gar eine lebensgroße Version: Ein Frauenkörper in dunkelgrauem Metallic-Stretch, Kopf im überdimensionierten Lampenschirm, posiert, tippelt auf Spitzenschuhen, kratzt lockend mit den Fingern in der Luft. Schnell ist auf der Bühne des Schauspiels Stuttgart klar: Katarzyna Kozielskas Choreografie mit dem surreal anmutenden Titel „It. Floppy. Rabbit.“ beleuchtet Wagenfeld. Immerhin gilt dessen Lampe als Ikone der legendären Kunstschule Bauhaus, die im April vor 100 Jahren in Weimar vom Architekten Walter Gropius gegründet wurde. Und Kozielskas Stück steht am Beginn des Ballettabends „Aufbruch“, den nun die Stuttgarter Kompanie – in Kooperation mit dem Nationaltheater Weimar – uraufgeführt hat.

 

Das dreiteilige Programm ist eine Hommage an das Bauhaus, das nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs ästhetisch wie gesellschaftlich neu anfangen wollte. Der elitäre Geist alter Kunstakademien sollte weg, auch die Trennung von Kunst und Handwerk. Kreative aller Gattungen sollten – wie einst in den mittelalterlichen Bauhütten – Gesamtkunstwerke in Federführung der Architektur schaffen. Gropius schwärmte im Manifest mit expressivem Pathos vom Bau der Zukunft: „Architektur, Plastik und Malerei, die aus Millionen Händen der Handwerker einst gegen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“

Weniger ist meist einfach mehr

Dieses Erbe zu vertanzen ist ohne Zweifel herausfordernd. Kozielska ging es ästhetisch an. Und so gaben die Tänzer schöne, gut getanzte neoklassische Duos, Trios und Gruppenszenen, Haare im glatten 20er-Jahre-Look: komplexe Hebungen, tiefe Beugungen, lange Streckungen, aufgelockerte Schwünge und Verwicklungen in afrikanisch anmutenden Stoffbahnen zu ebensolchen Rhythmen vor verschiebbaren Kuben mit Stoffstreifen – die Auftragskomposition besorgte Benjamin Magnin de Cagny, Bühnenbild und Kostüme Katharina Schlipf. Doch Bauhaus ist eigentlich mehr als Ästhetik und Wagenfeld. So wollte der Funke nicht überspringen; zu gewollt, zu aneinandergereiht, zu voll erschienen die Sequenzen. Da half auch das kurze Video nicht, in dem eine Hand den Menschen in geometrischen Formen zeichnete.

Weniger ist mehr: Dieser berühmte Satz wird Mies van der Rohe zugeschrieben. Der legendäre Architekt übernahm die Direktion des Bauhauses 1930, als es nach Dessau gezogen war. Ihn beherzigt Edward Clug in „Pattern in 3/4“. Zu Steve Reichs minimalistisch, gleichwohl komplex verschachtelten Marimbaklängen aus „Tokyo/Vermont Counterpoint“, gefolgt von Milko Lazars „A1“ und „A5“ aus „Ambients“, schickte er drei Tänzerinnen und vier Tänzer in schwarzen Hosen und schlichten weißen Shirts samt rotem Rückenstreifen in eine ebenso schlichte weiße Kulisse.

Der Kampf um Demokratie, Gleichberechtigung, Freiheit geht weiter

Marko Japelj gestaltete die L-förmigen, verschiebbaren Elemente, die an eine Versuchsanordnung erinnerten. Roboterartig erging sich denn auch die Truppe zunächst in vereinzelten rhythmischen Bewegungen: Da wurden die Arme hin- und hergeschwungen, weitere Körperteile auf Flexibilität getestet, gehüpft, im ruckartigen Paartanz die Beine parallel zur Seite geschwungen. Übermut kam ins puristische Spiel, als die L-Teile über die Bühne wanderten: Nur noch Köpfe waren zu sehen, die – gestupst – zu schweben schienen, Arme, die aus dem Nichts auftauchten. Den Stücken Clugs, Ballettdirektor im slowenischen Maribor, kommen die Bauhaus-Prinzipien von Form und Funktionalität entgegen. Seine Ballette sind oft minimalistisch, Details fokussierend. In „Aufbruch“ hat er mit seiner Spielwiese das Thema wunderbar auf den Punkt gebracht: klar, konturiert, nicht übergeistigt, humorvoll.

Kraftvoll indes interpretierte die Holländerin Nanine Linning, bis 2018 Künstlerische Leiterin der gleichnamigen Dance Company am Theater Heidelberg. Statt auf das Bauhaus konzentrierte sie sich in „Revolt“ auf die Zeichen der damaligen Zeit, die Mechanismen des Protests. 1919 endete die zuvor bekannte Welt: Frauen konnten erstmals wählen, die erste demokratische Verfassung Deutschlands, die Weimarer, wurde erarbeitet, darin die Meinungsfreiheit festgeschrieben. Aber noch hundert Jahre später wird gekämpft um Demokratie, Gleichberechtigung, Freiheit.

Entweder Gemeinschaft oder Horde

Derlei zieht sich durch Linnings „Revolt“, mystisch beginnend mit einer einsamen Kämpferin in lila vibrierendem Licht zu Donnerhall – Michael Gordons treibende Komposition „Weather“ interpretierte das Staatsorchester Stuttgart unter Wolfgang Heinz leidenschaftlich. Mit Verve tanzten auch die sieben Frauen und neun Männer – angeführt von einer mitreißenden Angelina Zuccarini und einem ebensolchen Louis Stiens – zu wechselnden Atmosphären und wandernden Lichtstreifen, die am Horizont des Bühnenkastens aufgingen.

In Leotards, an Samurai erinnernde Röcke, mit und ohne Fechtmasken verwickelten sich Körper, bildeten gleich agierende Gemeinschaften und gegnerische Horden, hart aufeinander oder ins Publikum blickend. Kaum Pausen im Geschehen, ständige Anspannung, allein eine Projektion menschlicher Schatten ließ sie innehalten. Mehr von Letzterem hätte dem Stück gutgetan. Dennoch: Linnings Revolte kann als Fanal für „Aufbruch“ gelten.