Premiere im Staatstheater „Algo pasó“: Kompliziertes Theater, dazu gute Musik

Mit Maske: Schauspielerin Micaela Gramajo Foto: Björn Klein

Wie bleibt man Menschen auf der Spur, die in einem politischen System der Gewalt spurlos verschwunden sind? Das fragt am Stuttgarter Staatsschauspiel das neue Stück „Algo pasó“. Aber gibt es auch Antworten?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Eines kann man als Zuschauer von „Algo pasó“, der jüngsten Premiere des Stuttgarter Staatsschauspiels, auf der Bühne des Kammertheaters ganz sicher nicht vermissen: die Abwechslung. Das intellektuelle Angebot dieses hundertminütigen Abends ist zweifellos groß.

 

Da gibt es zum Beispiel ausführliche Debatten über das Wesen des Anfangs oder über den Sinn des Archivs. Es gibt bruchstückhafte Filmsequenzen von Menschen, die in einer eher heißen Gegend unserer Welt zu irgendeinem brisanten Thema recherchieren. Dabei werden sie von ihren Informanten wahlweise versetzt oder aber mit Aussagen bedient, die keine knallharten Fakten, sondern nur poetische Sprachbilder bieten. Da steckt dann auch vieles drin, über das man auch erst mal gut nachdenken müsste.

Ergebnis eines dreijährigen Prozesses

Weiter treten auf zwei Figuren mit Masken, die offenbar in Zeiten des NS-Terrors aus Europa flüchten müssen und verzweifelt auf eine Schiffspassage gen Amerika warten. Während zwei andere Figuren einen längeren Exkurs halten über das Oberndorfer Waffenunternehmen Heckler & Koch und über dessen Milliardenbilanzen nebst den Abgründen des deutschen Waffenexport-Unwesens. Und dies alles und noch mehr zwischen vielen Holzkästen, Aktenschubern, Plastikplanen, Rauchmaschinen, Leitern, Scheinwerfern und was ein deutsches Staatstheater noch so alles im Ausstattungsangebot hat.

Wohl kaum ein Theaterbesucher wird sich aus diesem Mosaik, das noch dazu teils auf Deutsch und teils auf Spanisch geboten wird, einen Reim machen können. Schlauer wird man erst, wenn man hinterher im Programmheft das Gespräch mit den vielen Beteiligten des Projekts studiert. „Algo pasó“ ist das Ergebnis eines dreijährigen künstlerischen Prozesses, an dem im Zentrum beteiligt waren der österreichische Dramaturg und Regisseur Thomas Köck, die mexikanische Schauspielerin Micaela Gramajo, ihr Kollege und Landsmann Bernardo Gamboa, dazu Annina Walt aus der Schweiz und Timo Wagner aus Luxemburg.

Ein Abstecher in den Schwarzwald

Nachdem man also vor drei Jahren beschlossen hatte, wie Köck es ausdrückt, „etwas zusammen machen“ zu wollen, wählte man sich als Thema zunächst die „Desaparecidos“, die Verschwundenen in vielen Staaten Lateinamerikas: Menschen, die in den staatlich-kriminellen Gewaltsystemen ihrer Heimat plötzlich verschwinden, die man sich als Opfer von Militär-, Polizei- oder Mörderband tot vorstellen muss, deren Leichen aber nie gefunden werden. Bis nach Deutschland drang zumindest schon die Kunde jener 43 mexikanischen Studenten, die 2014 vermutlich einem Massaker zum Opfer fielen; bis zum heutigen Tag kämpfen die Familien verzweifelt und vergeblich um Aufklärung.

Dieses mit Sicherheit dramatische Thema ist aber eben nur Ausgangspunkt des Theaterprojekts gewesen; schnell, so Köck, war klar, dass man sich dem Thema Verschwinden auch „als ästhetischem Prinzip“ und in philosophischer Tiefe widmen wollte. So kam man dann auf das Archiv als einen Ort, der der schwindenden Erinnerung Einhalt gebieten soll. So kam man weiter auf das Unternehmen Heckler & Koch im Schwarzwald, dessen Waffen auch in Mexiko gern zum Einsatz kommen. So kam man aber auch auf den Kriegsterror der Nazis, vor dem viele Intellektuelle nach Lateinamerika fliehen wollten. Und wie all das und noch viel mehr schlüssig zusammenhängen (soll), das mag zum Schluss den Schauspielern und ihrem Regisseur Thomas Köck ganz sicher glasklar gewesen sein. Aber dem Zuschauer bleibt es ein stellenweise ermüdendes Rätsel.

Warum nicht einfach eine Geschichte erzählen

Es gibt drei, vier sehr berührende Momente an diesem Abend. Zum Beispiel den Monolog einer Frau, die einen „Verschwundenen“ zu beklagen hat und die in ihren Träumen seiner imaginierten Verschleppung folgt. Oder eine burleske Szene zwischen den beiden Mexikanern Bernardo Gamboa und Micaela Gramajo, welche einen der schweren Holzschränke von der Bühne wie ein „schweres Trauma“ auf ihren Rücken nehmen. Schön ist auch, auf der Bühne aus dem Munde Timo Wagners die feine Sprache Letzelburgisch zu vernehmen – wobei, na ja, auch an dieser Stelle nicht recht klar wurde, was nun genau der womöglich mangelhafte Widerstand der Luxemburger gegen die deutsche Okkupation 1940 mit den sonstigen Themen des Abends zu tun hat.

Zusammengehalten werden all diese Vorlesungsthemen letztlich nur von Theaterrauch, Lichtspots, Bühnengetümmel und zwei Songs der Gruppe Ja, Panik (an solchen Theaterstellen kommt dem Kritiker inzwischen immer der Programm-Werbespruch des übrigens sehr guten Radiosenders Deutschlandfunk Nova in den Sinn: „Es ist kompliziert. Dazu guter Pop“) – und, keine Frage, vom hochengagierten Spiel der vier Darsteller, die wie Pingpongmeister zwischen den Sprachen Spanisch und Deutsch hin und her switchen. Zum Finale des Abends philosophieren sie auch noch über das Wesen des Endes. Da sagt dann einer der vier: „Pass mal auf / ich kenne da so eine Geschichte“, und die anderen antworten: „Erzähl.“ Ach ja, seufzt hier der Zuschauer, hätten sie’s doch einfach getan.

Regisseur und Termine

Regisseur
Thomas Köck, Jahrgang 1986, ist Autor, Dramatiker, Regisseur, Philosoph, Musiker, Textdichter, Aktivist; politisch engagiert gegen die europäischen Rechten und vielfach international ausgezeichnet.

Termine
 Es gibt elf weitere Aufführungen von „Algo pasó“ im Kammertheater bis zum 3. November. Der Abend ist mit deutschen und spanischen Obertiteln.

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