Schon während die Zuschauer am Sonntagabend im Theatersaal des Stuttgarter Schauspielhauses ihre Plätze suchen, ist er in dieser Pose zu sehen, auf einem von Bühnenbildnerin Hildegard Bechtler entworfenen Plateau, von Wasser umgeben, ein Smartphone und Turnschuhe liegen neben ihm auf dem Boden. Hinter ihm auf der Rückwand der Bühne: das selbe Bild, Mann auf Sarg.
Iwanow heißt jetzt Hoffmann
So lässt sich einige Zeit rätseln: ist es ein Bild? Oder ein Video? Bewegt er sich noch, oder ist er schon nur noch Abbild, Schatten seiner selbst, wie später sein bester Freund über ihn sagen wird. Nein, noch bewegt er sich - Nikolaj Iwanow, Titelheld des Tschechow-Dramas aus dem Jahr 1887.
So stark, so unbeweglich dieses Bild scheint, so schwer legt es sich über das Stück. Sie zeigt einen Mann von vorne, von oben, nur in ihn hineinschauen kann man nicht.
Der Regisseur Robert Icke hat den Text bearbeitet, er treibt dem Stück bei seiner gut zweistündigen Inszenierung am Sonntag im Schauspielhaus Stuttgart vor allem den russischen Weltschmerz aus. Und damit niemand selbst darüber nachdenken muss, ob dieser Iwanow heute noch relevant ist, leistet der Regisseur Übersetzungshilfe.
Ein depressiver Normalo mit Geldproblemen
Nikolaj Iwanow, gespielt von Benjamin Grüter, heißt jetzt Nikolas Hoffmann und ist ein schwerdepressiver Normalo mit Geldproblemen und einem öden Job in der Verwaltung. Seine Frau Anna (Paula Skorupa) leidet nicht mehr an Schwindsucht, sondern an Krebs. Und die junge geliebte Sascha (Nina Siewert) heißt jetzt mit Nachnamen Lehmann und ist eine resolute junge Frau, die sich selbstbewusst den schönen, traurigen Nikolas angelt.
Wie schwer der an seiner Depression leidet, sieht aber leider keiner. „Dir fehlt der Drive“, so tut etwa sein Freund Michael (Peer Oscar Musinowski) die Krankheit ab. Die reichen Eltern von Sascha verdienen ihr Geld heute mit Immobilien, Sorgen macht ihnen das steigende See-Wasser, das die Fundamente von Villen gefährdet - Achtung Klimawandel - und wenn über Politik geredet wird, fallen Stichworte wie „das europäische Projekt“, die Türkei und „die Frage der Engländer“.
Der Antisemitismus, den Nikolas kranke, jüdische Frau Anna erleidet, durch „Scherze“ des verarmten Grafen und Nikolas’ Ausbruch „Judenschlampe“ während eines Ehezoffs - er ist leider wieder oder weiter so aktuell wie man es lange Zeit in Deutschland nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Eindimensionale Helden
Dennoch, so plausibel derlei Akzentverschiebungen und Aktualisierungen sind, so eindimensional sind vor allem die Hauptfiguren geraten. Anders als im Leben ist das Krankheitsbild Depression auf der Bühne sehr eindeutig, das Benjamin Grüter darzustellen hat. Gute zwei Stunden lang wird der Schauspieler, der lange Jahre im Ensemble des Staatsschauspiels war und nun als Gast nach Stuttgart zurückkehrt - müde und missmutig in sich hineinblicken, manchmal auch weinen, seine Frau und die Freunde anbrüllen.
Das Stück lebt freilich ursprünglich auch davon, dass immer wieder aufblitzt, was für ein faszinierender, kluger Mensch dieser Iwanow einmal war. Warum alle um ihn kreisen, ihn retten wollen, sich freuen, wenn er auf einer Party aufkreuzt - das ist jetzt einigermaßen unklar.
Dieser Nikolas bekommt bei Icke nicht genügend Raum, um seine existenzielle Krise glaubhaft auszubreiten und seine - krankheitsbedingte - Ichzentriertheit und Kälte den Mitmenschen gegenüber hart und präzise auszuspielen. Die lähmende Verzweiflung des Helden - und die seiner todkranken Frau - wird mehr behauptet als dargestellt.
Nikolas lässt sie Abend für Abend sitzen, um bei seinem Kumpel Peter Lehmann und dessen süßer 16 Jahre jungen Tochter Sascha zu verbringen. Und was tut seine Frau, die ihn so sehr liebt, dass sie für ihn auf Eltern und Erbe verzichtet hat? Sie nestelt trübe dreinblickend an ihrer Strickjacke. Statt Liebe, Hass, Verzweiflung und Wut ist weinerliche Bitterkeit das Maximum an Gefühlen, das ausgelebt werden kann.
Eher eine Komödie als eine Tragödie
Tschechow hatte die Tragödie ursprünglich als Komödie angelegt - und davon zeugen immer noch viele Szenen. Und Robert Icke, der vergangene Saison in Stuttgart schon ein antikes Drama in die Jetztzeit übertragen hat, will vor allem auch unterhalten und die Geschichte erzählen - Nikolai, der auf der Geburtstagsfeier von Sascha mit ihr knutscht und sich mit ihr auf dem Boden wälzt, von der überraschend aufgetauchten Ehefrau Anna erwischt wird, sich später mit Anna und aller Welt streitet und nachdem er Witwer wurde, von Sascha geheiratet werden soll. Dafür nimmt er sich gerade mal etwas mehr als eine Spielfilmlänge Zeit.
Hohes Tempo ist angesagt, und da zeigt sich, das Ensemble hat eine hervorragende Kondition. Tschechows Welt ist immer auch bevölkert von skurrilen Figuren: Klaus Rodewald spielt den abgehalfterten, oft sinnlos keckernden Grafen Matthias, der sich mit dem Gedanken trägt, die reiche Witwe Marta zu heiraten, angefeuert wird er von Nikolas’ Verwalter Michael (Peer Oscar Musinowski) der jetzt Business Manager heißt und mit überbordendem Aktionismus für Auftrieb sorgt. Die Witwe wiederum, gespielt von Christiane Roßbach, beginnt beim Gedanken, Gräfin zu werden, besonders täppisch geziert aufzuführen.
Kann die Liebe Nikolas retten?
Mit herrlich schneidendem Tonfall, blasierter Miene, schick toupiertem Haar gibt Marietta MeguidSinaida, die reiche und geldgierige Gattin von Peter Lehmann. Michael Stiller spielt aufs Amüsanteste diesen unterjochten Ehemann, der einen roten Kopf zu bekommen meint, wenn er seinen Kumpel Nikolas daran erinnern soll, seine Zinsschulden bei Sinaida zu bezahlen und dem traurigen Freund mit hilfloser Miene die banalsten Vorschläge - „Du brauchst Tapetenwechsel!“ - unterbreitet, dann innehält und selbst abwinkt und damit immerhin so etwas wie ein Lächeln bei dem Kranken bewirkt.
Nina Siewert, die so verzogene wie selbstbewusste Lehmann-Tochter Sascha, versucht ihr Helferlein-Syndrom, Nikolas durch ihre Liebe zu retten, nicht allzu seelenvoll zu gestalten. Mit ruppigem Ton herrscht sie den Trauerkerl an, mit seinem Lamento aufzuhören und jetzt gefälligst mit ihr an den Traualtar zu schreiten und knallt dem politisch ach so korrekten Arzt (Felix Strobel) noch eine, weil der ihren Nikolas als Verbrecher und Mörder schlechtredet.
Irgendwann ist aber Schluss mit lustig, die Totenkiste stand nicht nur als Requisit zwei Stunden lang auf der Bühne. Und doch, eingesargt wurde an diesem Abend vor allem eins: die Krankheit zum Tode, die Tragödie über einen depressiven Menschen.