Beim VHS-Pressecafé der Stuttgarter Zeitung hat Christoph Link über den Rechtsruck in Europa gesprochen

Stuttgart - E

 

in Gespenst geht um in Europa: Dieser Satz leitete einst das Kommunistische Manifest ein und wurde zur geflügelten Redewendung. Geht 171 Jahre später das Gespenst des Rechtspopulismus in Europa um? „Es ist kein Gespenst, aber ein Alarmsignal und Korrektiv für andere Parteien, dass sie den Wählerwillen nicht ernst nahmen“, so Christoph Link im Treffpunkt Rotebühlplatz. Dort sprach der Politikredakteur unserer Zeitung in der Reihe „Stuttgarter Zeitung Direkt – VHS Pressecafé“ über das Thema „Europa und der Rechtsruck: Wie geht es weiter in der EU?“.

Nationalistische Parteien in 28 Staaten

In allen 28 Staaten fänden sich rechte nationalistische Parteien. Link zählte einige auf: „Die Wahren Finnen, die sich neuerdings nur Die Finnen nennen, die Dänische Volkspartei, die Freiheitspartei in den Niederlanden, in Frankreich das Rassemblement National, ehedem Front National, Griechenland hat die Goldene Morgenröte, Italien die Lega, hier die AFD, in Ungarn Fidesz und die noch radikalere Sinti- und Romafeindliche Jobbik.“ Mit dem Einzug der Vox im Regionalparlament von Andalusien sei die letzte Bastion gefallen. „Die Spanier waren bisher wegen ihrer Erfahrungen mit dem einstigen Diktator Franco da eher zurückhaltend“, sagte Link.

Dabei habe die ungarische Fidesz Vorbildcharakter für die Rechten. Einst als vermeintlich coole linke Jugendpartei vom ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán 1988 mitgegründet, erfuhr sie eine Verwandlung nach dem erdrutschhaften Wahlsieg im Jahr 2010. „Die Wähler hatten die Nase voll von acht Jahren Sozialismus“, so Link. Später sei die Flüchtlingspolitik Angela Merkels Anlass gewesen, Fidesz ein neues politisches Thema zu geben. „Keine Ausländer in Ungarn.“

Die traditionelle Familie im Fokus

Link erläuterte, was die Rechten in Europa gemeinsam hätten: eine Abkehr vom westlichen Gesellschaftsmodell, vor allem der libertären Lebensweisen. Sie wünschten sich eine harte Hand, die traditionelle Familie stehe im Fokus.

Orban in Ungarn und sein Amtskollege Jaroslaw Kaczynski in Polen spielten mit den Traumata der nationalen Geschichte – und den Ängsten der Bevölkerung. Ungarn musste 1920 einiges an Territorien an Nachbarländer abgeben, Polen hat drei Teilungen hinter sich. „Nach der Wende 1989 ist von westlichen Investoren viel kaputt gemacht worden“, so Link. Kaczynski könne daher sein Narrativ verbreiten, er habe die Mission alles wieder aufzubauen. Dabei baue er den Rechtsstaat radikal um, beschneide die Freiheit der Gerichte und der Presse. „Ungarn ist bei der Pressefreiheit auf Platz 73 hinter Mauretanien, der Mongolei und Hongkong.“ Dass das Land sich weigerte, beim Verteilungssystem der Geflüchteten mitzumachen, zum dem es von der EU verpflichtet wurde, bringe erstmals das europäische Rechtssystem ins Wanken.

Transparente Entscheidungen gefordert

Dagegen kann die EU Paragraf sieben des EU-Vertrags anwenden. „Der wird genutzt, wenn der gemeinsame Wertekatalog verletzt wird: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechte der Minderheiten. Dann könnte Ungarn das Stimmrecht in der EU entzogen werden“, sagte Link. Ein Rauswurf aus der EU ist das nicht, aber es komme ihm nahe, sagte der Redakteur auf die Frage einer der rund 80 Zuhörer. Die Krux: Bei rechtsstaatlichen Verfahren bedarf es der Einstimmigkeit im Ministerrat.

Einig war man sich im Publikum, dass die EU ihre Entscheidungen transparenter machen sollte, um der Propaganda der Rechten entgegenzutreten oder auch auf EU-Ebene wirksamer gegen die internationalen Konzerne, die die Politik am Gängelband nehme, vorgehen müsse. Der Ton werde in der EU mit den Rechten schärfer, so Link. Die EU schreite womöglich langsamer voran, aber die Gegenwartsprobleme könne kein Land allein lösen. Unstimmigkeiten gehörten aber zur Demokratie. Darauf ein älterer Herr versöhnlich: „Für 28 Staaten und Sprachen funktioniert es in der EU doch noch relativ gut.“