Wortkunst und Bildspiel: Mit Tino Sehgal und Samuel Beckett ist das Stammhaus der neuen Berliner Volksbühne eröffnet worden. Dabei wirkt manches wie in den falschen Rahmen kopiert, bleibt Behauptung oder verkommt gar zum Hintergrundrauschen.

Berlin - Das ist jetzt schwierig. Vor Monaten schon hat das Theater um diesen Abend begonnen. Seitdem bekannt wurde, dass Chris Dercon im Herbst das Stammhaus der Volksbühne mit Arbeiten von Tino Sehgal und Samuel Beckett eröffnen werde, hat Theaterdeutschland diesem Premierendatum entgegengefiebert. Es hat ja zuvor keinen derart verwinkelten, verbitterten Theaterstreit gegeben. Wie kann man nach all dem die so oder so verfassten Vorurteile halbwegs aus dem Kopf räumen? Man kann es nicht. Man kann nur versuchen, überraschungsbereit zu bleiben.

 

Also auf in die neue Volksbühne, Wunder erwartend, oder zumindest Verwunderungen. Die erste Kunstanmutung bereits im Foyer: Das Licht flackert, E-Gitarren-Akkorde samt Schlagwerktöne kommen auf, eigens komponiert von Ari Benjamin Meyers, in Theaterkreisen vor allem durch seine Musiken für die Monumentalinszenierungen von Ulrich Rasche bekannt. Linkerhand sind Teppich und Vorhänge nunmehr im hellen Türkis, rechterhand in pink. Im Lichtgewitter erscheinen sie wie Farbungeheuer. Als lebte das Haus, als atme es Widersprüche. Schön, aber ist’s mehr als Effektschmeichelei?

Der Auftakt: aufreizend läppisch

Die Musik immerhin ist gehörig laut, lauter dann noch, wenn es in den großen Saal geht. Die Stühle fehlen, man hockt auf dem Boden. Die Bühne ist leer, das Licht flackert einstweilen aufwendiger, die Hubböden erheben und senken sich stumm. Und langsam fährt der große Lüster herab. Ein Gespenstertanz der Technik, auch eine Geisteraustreibung: Die neue Volksbühne nimmt die alten Gewerke in Besitz. Nach gut 20 Minuten ist die schauspiellose Séance bereits vorüber: ein aufreizend läppischer Auftakt. Wüsste man nicht um den heiklen Gesamtkontext, würde man derlei proseminaristischer Kunstgewerblichkeit verdächtigen.

Zumal es der einzige Beitrag des Abends ist, der eigens für diese Eröffnung geschaffen wurde. Sein Titel ist, ironischerweise, „(Ohne Titel), 2017“, sein Schöpfer jener viel gerühmte Tino Sehgal, der in den Seitenfoyers einige seiner älteren Werke reinszeniert hat, etwa die Arbeiten „Ann Lee“ (2011) und „Ann Lee & Marcel“ (2016). Es sind dies ausgesprochen zarte, intensive Interaktionsperformances. Auf einer Leinwand ist eine Cyborg-Figur zu sehen, davor treten junge Performerinnen in Slow Motion auf und tragen Sätze vor. Allein, man versteht sie nicht. Das lärmende Premierenvolk ist mit Bierholen und Small Talk beschäftigt, die Kunst wird zum Häppchenbeiwerk, zum Hintergrundrauschen.

Warum nur hat Sehgal sein eigenes Werk derartiger Verhunzung anheimgegeben?

Vor zwei Jahren war „Ann Lee“ im Rahmen der Sehgal-Retrospektive im Berliner Gropius-Bau als berührend verstörende Situationskunst zu erleben. Es wurde damals peinlich auf Ruhe und Konzentration geachtet; jetzt nicht, jetzt verebben die wenigen verstehbaren Englisch-Fetzen im Soundbrei.

Kunst ist auch eine Frage des Kontextes, an diesem Abend wirken die Performances entsprechend wie in den falschen Rahmen kopiert, in die Hände einer wahlweise überforderten oder dilettantischen Dramaturgie geraten. Der laute Anfang, die leisen Bild-Monologe danach: Das verträgt sich schlicht nicht. Warum nur hat Sehgal sein eigenes Werk derartiger Verhunzung anheimgegeben? Traurig.

Darauf dann vollständige Dunkelheit: Im inzwischen bestuhlten Bühnenraum ist nichts als ein winziger Lichtfleck zu sehen. Ein Mund. Es ist der Mund von Anne Tismer, einst Schauspielerin an der Schaubühne, längst eigenständige Aktionskünstlerin. Sie spricht den im besten Sinne abseitigen Beckett-Text „Nicht ich“. Eine Wortflut in eine „gottverlassene“ Leere hinein, ein „Anbellen gegen die Sterblichkeit“.

Der einstige Beckett-Assistent Walter Asmus hat die Vorlage verknappt

Der Text wirkt bei Tismer erstaunlich durchsichtig, er leuchtet, er strahlt. Auch überraschend: Der Regisseur dieses Beckett-Konzentrats, der einstige Beckett-Assistent Walter Asmus, hat die Vorlage verknappt. Beckett wollte nicht nur einen Mund auf der Bühne, sondern auch einen in eine schwarze Djellaba gehüllten „Vernehmer“. Der fehlt bei Asmus, die Vernehmer-Rolle übernimmt das Publikum. Was bei Sehgal vergeblich gesucht wird, findet bei Asmus damit statt: das Theater als herz- und sinnstürzende Interaktions-Plastik.

Das verliert sich danach, leider. In „Tritte“, dem zweiten Teil dieser Beckett-Trilogie, ringt Tismer als weiß angestrahltes Fragezeichen mit einem Mutter-Tochter-Kopf-Dialog und sucht Rettung im psychologisierenden Ton. In „He, Joe“, von Beckett als Fernsehspiel verfasst, brütet der stumme Morten Grunwald auf der Bühne. Sein Gesicht übergroß im Video, seine Kopfinnenstimme von Tismer im Daueranklageduktus vorgetragen – ausgestellte Absurdität, museal verpacktes Reproduktionstheater.

Verbindungen sind da, werden aber nicht hergestellt

Ein Chor löst es auf: Umweglos schließt sich die Sehgal-Arbeit „These Associations“ (2012) an. Es wird von „electricity“ gesungen, von „nature“. Die Sänger räumen die Stühle weg, scheuchen das Publikum umher, erzählen Einzelnen Geschichten. In meiner ist von Chemnitz, Neonazis und einer Schwiegermutter die Rede. Nun ja.

Im Grunde sind aber auch diese Singspieler Beckett-Figuren. Man kann sich ohnehin zwischen den Metakunst-Figuren Sehgals und den Nicht-Figuren Becketts leicht Verbindungen denken. Beckett selbst ist wesentlich von der Bildenden Kunst, der Malerei beeinflusst, auf „Nicht ich“ kam er zum Beispiel durch Caravaggios „Enthauptung Johannes des Täufers“. Aber das transdisziplinäre Gespräch bleibt hier kunsttheoretische Behauptung, kuratorische Absichtserklärung. Das prägt den gesamten Abend: große Gesten, wenig Gehalt.

Draußen vor der Volksbühne waren zuvor übrigens Polizisten aufgestellt, für alle Fälle. Das wäre nicht nötig gewesen.