Mehmet Scholl schimpft auf die Taktik von Joachim Löw. Oliver Bierhoff schimpft auf Mehmet Scholl. Und unsere Redaktion fragt sich, ob der Bundestrainer mit seiner Taktik die richtige Entscheidung getroffen hat.

Bordeaux - Der Bundestrainer benötigt einen kurzen Moment der Ruhe. In die Kabine zieht er sich zurück, als das epochale Elfmeterschießen ein glückliches Ende gefunden hat und um ihn herum Jubel ausgebrochen ist. Er will alleine sein mit sich und seinen Gedanken. Erreicht ist das Halbfinale auch bei seinem fünften großen Turnier, beendet ist die schwarze Serie gegen Italien, getilgt die Schmach von 2012, als er die falsche Taktik gewählt hatte und an die Wand genagelt wurde. Selten dürfte Joachim Löw eine Beruhigungszigarette nötiger gehabt haben als jetzt.

 

Bald kommt der Bundestrainer wieder raus und ist die Ruhe selbst. Erst nimmt er die Glückwünsche der Belegschaft entgegen. Dann sitzt er in den Katakomben des Stadions auf dem Podium, trotz des Elfmeterdramas ohne jeglichen Überschwang. „Zwei Mannschaften auf taktisch unglaublich hohem Niveau“ habe er gesehen – und schon lange vor dem Viertelfinale gewusst, wie die Italiener zu schlagen sind: „Sie spielen immer gleich, von außen in die Mitte – das machen sie super, aber es ist leicht berechenbar.“ Er wisse, dass über die taktischen Veränderungen diskutiert werde, „aber das war dringend notwendig“, sagt Löw. Dringend. Löw weiß allerdings auch, dass manches über ihn hereingebrochen wäre, hätte es wieder nicht gereicht. Viel fehlte nicht – ein Fehlschuss der Jungen wie Julian Draxler oder Joshua Kimmich hätte zum Ausscheiden gereicht, niemand hätte es ihnen übel nehmen können. Und wieder hätte es geheißen: warum wirft der Bundestrainer in den entscheidenden Spielen seine Taktik um? Hätte, hätte, Dreierkette – es ist gut gegangen, auch oder gerade wegen der neuen Taktik.

Oliver Bierhoff schimpft auf Mehmet Scholl

Doch bewahrt auch der Erfolg den Bundestrainer nicht vor heftigster Kritik . „Warum bringt man eine Mannschaft, die bisher funktioniert hat, in diese Situation, dass man sagt: Man muss sie auf die Gegner anpassen?“, fragte der ARD-Experte Mehmet Scholl und nannte die Turniere 2008, 2010 und 2012, als Löw ebenfalls seine Taktik verändert und jeweils verloren hatte. „Und jetzt kommt der Clou: Bei WM 2014 hat Löw der Mannschaft vertraut und ab dem Viertelfinale mit der gleichen Aufstellung gespielt. So gewinnt man Titel“, sagte Scholl und ätzte gegen den Chefscout und engen Berater des Bundestrainers in Fragen der Taktik: Urs Siegenthaler „möge bitte seinen Job machen, morgens liegenbleiben, die anderen zum Training gehen lassen und nicht mit irgendwelchen Ideen kommen“.

Die scharfe Kritik von Scholl verärgert den DFB-Tross. „Er hat den gesamten Trainerstab angegriffen“, schimpft Teammanager Oliver Bierhoff, „Mehmet kennt unsere Abläufe nicht, er weiß nicht, wie Entscheidungen getroffen werden. Es war unmöglich, wie er das dargestellt hat.“ Joachim Löw lässt erkennen, dass er keinen Einflüsterer benötigt habe, um zu seiner Entscheidung zu kommen. Für ihn sei das schon nach dem 2:0-Achtelfinalsieg der Italiener gegen Spanien klar gewesen – „das war mein erster Gedanke“. Er ließ Julian Draxler trotz dessen starker Leistung gegen die Slowakei draußen und schickte in Benedikt Höwedes einen weiteren Verteidiger aufs Feld. „Bis auf eine Möglichkeit in der ersten Hälfte kam Italien nicht zum Zug“, sagt Höwedes: „Es war das erklärte Ziel, das wir mit der Dreierkette erreichen wollten – und das hat hervorragend geklappt.“

Weil Mats Hummels gegen Italien die zweite Gelbe Karte sah und im Halbfinale zuschauen muss, dürfte der Schalker auch weiter in der Mannschaft bleiben. Offen hingegen ist die Frage, ob der Bundestrainer dann noch einmal auf die Dreierkette vertraut. „Ob das eine weitere Option sein wird, das muss ich erst einmal sehen“, sagt Joachim Löw – und wird Mehmet Scholl vermutlich nicht um Rat fragen.

Über Joachim Löws Taktik gehen aber auch in unserer Redaktion die Meinungen auseinander. Ein Pro und Kontra.

Löw hat Recht

Unser Redakteur Jochen Klingovsky meint:

Natürlich hat der Bundestrainer das Glück, über herausragende Offensivkräfte zu verfügen. Thomas Müller, Mesut Özil, Toni Kroos oder Mario Gomez sind in der Lage, jeder Abwehr Kopfzerbrechen zu bereiten. Aber um Titel zu holen, benötigt es mehr als torgefährliche Angreifer. Es braucht vor allem eine stabile Defensive. Und natürlich das passende taktische Konzept. So wie gegen Italien.

Die Squadra Azzurra hatte bei ihren EM-Erfolgen gegen die Fußball-Größen Spanien und Belgien nach einem einfachen Schema gespielt: alle Bälle zu Pellè. Der Stürmer hielt die Kugel und setzte seine Kollegen perfekt ein. Gegen Deutschland kamen die Italiener nur zu einer Großchance und hätten ohne den Hand-Aussetzer von Jérôme Boateng im Strafraum wohl noch Stunden spielen können, ohne das Tor von Manuel Neuer zu gefährden. Warum? Weil die Dreierkette mit Hummels, Boateng und Höwedes nicht nur die Lufthoheit hatte, sondern auch Pellè komplett aus dem Spiel nahm. Und dem Gegner damit seine größte Stärke.

Joachim Löw erlebt sein fünftes großes Turnier als Bundestrainer, immer erreichte er das Halbfinale – auch deshalb, weil er es perfekt versteht, sein Team auf die nächste Aufgabe vorzubereiten. Ein Weltmeister, der auf die Qualität des Gegners reagiert? Ist natürlich keine Schwäche, sondern ein Zeichen taktischer Stärke – und von Mut, wenn es in den Spielen zuvor mit einem anderen System gut gelaufen war. Löw hat das strategische Geschick und das passende Personal, um seinen Stil zu pflegen, auch wenn nicht allen Fans gefallen hat, dass ihm eine stabile Defensive gegen Italien wichtiger war als ein Offensivspektakel. Letztlich gilt trotz des Glücks, das die Deutschen im Elfmeterschießen hatten: Die Taktik, die zum Sieg führt, kann so falsch nicht gewesen sein.

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Löw hat Unrecht

Unser Redakteur Heiko Hinrichsen meint:

Eine zünftige Dosis bayerischen Mia-san-Mia-Gefühls dürfte auch dem Südbadener Joachim Löw für den weiteren Verlauf des EM-Turniers nur guttun. Verfügt der Bundestrainer doch mit seiner hochwertigen Müller-Özil-Götze-Gomez-Draxler-Sané-Podolski-Angriffsselektion über eine derart geballte Offensivpower, die auf dem europäischen Fußballkontinent unerreicht ist.

Mit diesen Edelfüßen Made in Germany lässt sich jedem Gegner der eigene Stil aufzwängen. Der Bundestrainer aber zeigte sich offenbar leicht Italien-traumatisiert – und stellte mutlos hinten auf eine Dreierkette um, die er im Rückwärtsgang durch Joshua Kimmich und Jonas Hector noch zu einem Fünferriegel erweitern ließ. Das war trotz der italienischen Doppelspitze Pellè/Eder ein gleichsam hasenfüßiger wie gefährlicher Schachzug, denn die Balance des eigenen Teams geriet damit ins Wanken.

Im EM-Verlauf war die DFB-Elf ja immer besser ins Rollen gekommen, gegen Nordirland und die Slowakei hatte mit Torchancen am Fließband ein Rädchen ins andere gegriffen. Gegen Italien war plötzlich Sand im Getriebe, denn die verunsicherten Spieler mussten die neuen Abläufe erst verinnerlichen. Durch die so gedrosselte Offensive reichte es trotz optischer Dominanz nach 120 Minuten nur zu einem Tor.

Das war unnötig. Ein personell so gut bestückter Weltmeister darf seinen Offensivjoker nicht freiwillig aus der Hand legen, sondern muss seinen Stil selbstbewusst durchziehen. Sich taktisch anzupassen, das ging bereits 2008 (EM-Finale) und 2010 (WM-Halbfinale) gegen Spanien ziemlich und im Euro-Semifinale von 2012 beim 1:2 gegen die Squadra Azzurra kolossal schief.

Diesmal hatte Löw Glück: denn in der Elfmeter-Lotterie von Bordeaux wurde immerhin der richtige Sieger gezogen.