Mit der Nominierung der parteilosen Klima- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete zeigt die Linken-Spitze, dass sie gezielt neue Milieus erschließen will. Für die Partei ist das lebenswichtig, meint unser Berlin-Korrespondent Norbert Wallet.
In einem selbst für FDP-Bundesvorsitzende ungewöhnlichen Anflug an Liberalität wies FDP-Chef Lindner zuletzt darauf hin, dass es keinen Grund gebe, politischen Fundametalprotest bei Wahlen durch ein Kreuz bei der AfD Ausdruck zu verleihen. Da wäre ja auch noch die Linkspartei.
Lindner macht auf wichtigen Punkt aufmerksam
Natürlich ist Lindner über jeden Verdacht erhaben, Wahlwerbung für die Linkspartei zu betreiben. Aber er macht ganz zu Recht auf einen sehr wichtigen Punkt aufmerksam. Tatsächlich ist es auch eine Funktion einer funktionierenden Partei links von der SPD, der Unzufriedenheit und Missstimmung gegenüber den etablierten Parteien eine politische Adresse zu geben, die ohne Rassismus, Hetze gegen Minderheiten und der Verächtlichmachung des demokratische Rechtsstaats auskommt. Die Linke kommt sicher nicht ohne Zuspitzungen und Polarisierungen aus.
Fragen nach der gerechten Verteilung von Macht, Geld und Ressourcen
Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die Linke führt ihre Konflikte sozusagen vertikal: oben gegen unten. Sie stellt Fragen nach der gerechten Verteilung von Geld, Macht und Ressourcen. Die Rechtspopulisten führen ihre Kulturkämpfe gleichsam horizontal: Einheimische gegen Zuwanderer, „Normale“ gegen Menschen anderer Orientierung, „wir“ gegen „die“. Das ist in seinem spalterischen Grundanliegen Sprengstoff für jede Gesellschaft. Lindners Bemerkung ruft in Erinnerung, dass der Höhenflug der Nationalpopulisten auch damit zu tun hat, dass die Linke aufgrund ihrer jahrelangen selbstzerstörerischen Grabenkämpfe diese Funktion der Protestabsorbierung nicht mehr ausfüllen kann.
Der Grund liegt auf der Hand. Sahra Wagenknecht und ihre Getreuen haben mit ihren Positionen, die in der Partei niemals eine Mehrheit hatten, Richtung und Haltung der Partei bis zur Unkenntlichkeit verunklart. Es hat viel zu lange gedauert, bis der Parteivorstand einen klaren Trennungsstrich gezogen hat. Zum Bruch kam es erst Ende Juni. In den Umfragen liegen die Linken noch immer um die fünf Prozent. Und zweifellos wird ihr Schicksal weiterhin von Wagenknecht mitbeeinflusst. Wenn sie sich dazu entschließt, mit einer eigenen Parteigründung in Wahlkämpfe zu ziehen, wären ihr Achtungserfolge zuzutrauen.
Dennoch zeigt sich gerade, dass es der Linken guttut, keine Rücksicht mehr auf die Nicht-Einbindbare zu nehmen. Die Spitzenkandidaturen für die Europawahlen ist ein gutes Beispiel dafür. Die parteilose Carola Rackete übernimmt die weibliche Spitzenposition. Sie war 2019 bekannt geworden, als sie mit 53 aus Seenot geretteten Flüchtlingen mit ihrem Schiff „Sea Watch“ trotz eines Verbots der italienischen Behörden die Insel Lampedusa anlief.
Öffnung für soziale Bewegungen
Diese Öffnung der Linken für soziale Bewegungen, für junge Menschen, die sich unabhängig von Parteien für Frieden, offene Grenzen oder Klimaschutz einsetzen, war von Wagenknecht immer bekämpft worden. Das war schon der rote Faden aller Auseinandersetzungen der alten Parteiführung um Bernd Riexinger und Katja Kipping mit dem Wagenknecht-Lager. Die beiden wussten: Der Versuch, neue Milieus für die Linke zu erschließen, ist für die Partei überlebenswichtig. Insofern ist die Nominierung ein Zeichen der Befreiung von den Beklemmungen der Wagenknecht-Ära.
Der große Test kommt 2024 in Thüringen
Der große Test kommt im nächsten Jahr. Da werden vor allem die Landtagswahlen in Thüringen eine wichtige Wegscheide. Da muss die Linke zeigen, dass sie mit einem kreuzpragmatischen Ministerpräsidenten im Osten noch immer Mehrheiten gewinnen kann. Und die demokratischen Mitbewerber müssen zeigen, wie ernst sie es mit der Ausgrenzung der AfD tatsächlich nehmen.