Die Dirigentin des Nürtinger Kammerorchesters, Friederike Kienle, und die Stuttgarter Pianistin Sophia Weidemann reisen für zwei Benefizkonzerte in das Kriegsland.

Zwei Musikerinnen aus der Region realisieren ein außergewöhnliches Projekt im Kriegsland Ukraine: Die Dirigentin des Nürtinger Kammerorchesters Friederike Kienle und die Stuttgarter Pianistin Sophia Weidemann wollen dort zwei Benefizkonzerte geben. Am Sonntag, 22. Juni, gastieren sie gemeinsam mit dem Rivne Philharmonic Orchestra beim Festival „Rivne Classical Residence“ in der Organ Music Hall in Rivne in der West-Ukraine. Im Gespräch mit unserer Zeitung schildern die Künstlerinnen ihre Beweggründe.

 

Frau Kienle, Frau Weidemann, wie ist die Idee für das Projekt entstanden?

Friederike Kienle: Natürlich bewegt uns alle das Thema Ukraine schon sehr lange und ich habe mich diesbezüglich schon in verschiedener Form engagieren dürfen. Aber die Begegnung vor Ort, dass man hinfährt und mit den Menschen in der Ukraine, in ihrem Umfeld und unter ihren Bedingungen Musik macht, ist mir wichtig.

Sophia Weidemann: Musik an Orte zu bringen, wo jetzt gerade wenig gemacht werden kann, weil es zurzeit nicht geht, das schafft eine unglaubliche Atmosphäre. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache, aber es gibt eine Verbindung über die Kraft der Musik. Wir geben dort nicht irgendein Sonntagskonzert und fahren wieder weg, sondern erleben dieses Gemeinschaftsgefühl, zusammen was zu kreieren, auf die Bühne zu bringen und die Menschen zu erreichen.

Wie kam der Kontakt mit dem „Rivne Philharmonic Orchestra“ zustande?

Kienle: Dieses Engagement ist zustande gekommen über einen guten Freund von mir, dem Klarinettisten Taras Demchyshyn, den ich noch aus meiner Zeit in Japan kenne. Er hat selbst schon in Rivne ein Konzert dirigiert und mich dort als Dirigentin empfohlen.

Wie wird Ihr bevorstehender Besuch in Rivne aufgenommen?

Kienle: Die Gastgeber freuen sich sehr auf uns und es ist erstaunlich, wenn wir mit ihnen über Videokonferenzen in Kontakt sind, wie optimistisch sie wirken, während wir gerade so deprimiert sind über die gegenwärtige weltpolitische Lage.

Weidemann: Ja, da merkt man auch schon, was unser Projekt mit den Menschen dort macht. Sie sind dankbar, dass wir kommen und über Spenden die Konzerte ermöglichen und ihre Gastfreundschaft wird schon im Vorfeld spürbar. Diese Synergie beflügelt uns gegenseitig sehr.

Frau Weidemann, soziales Engagement und Musik gehört für Sie wie auch für Frau Kienle zusammen?

Weidemann: Ja, ich habe viele Jahre in der Yehudi Menuhin Stiftung gearbeitet, die sich einsetzt für hochbegabte Studierende, die sie zu musikalischen Auftritten in Gefängnisse schickt, in Altersheime und Hospize, also an Orte, wo die Menschen nicht hinkommen. Diese Erfahrung war für mich einer der Gründe, warum ich trotz der Gefahren durch den Ukrainekrieg gleich zugesagt habe. Hoffen wir, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer für die Dauer des Konzerts in die Musik eintauchen können und dadurch Kraft finden, um ihre Sorgen im Alltag etwas abzumildern.

Frau Kienle, Sie haben Beethovens Sinfonie Nr. 3 „Eroica“ im Programm und wollen damit sicher eine Botschaft vermitteln

Kienle: Die 3. Sinfonie „Eroica“ („die Heldische“) von Beethoven macht deutlich, was ein Held ist: Jemand, der durch die ganze Tiefe des Schicksals hindurchgeht, nicht zuletzt im Trauermarsch des 2. Satzes. Es ist reizvoll, diese Musik mit und für Menschen zu machen, die wirklich selber Helden sind, also die durch etwas durchgegangen sind. Sie werden diese Musik wirklich verstehen. Ich bin gespannt, ob wir im Orchester dieses Aufbegehren eines leidgeprüften Volkes, das sich Frieden und Freiheit wünscht, ob wir das in die Musik mit reinnehmen können. Es wird intensiv sein und ich bin überzeugt, dass der Symbolgehalt der Beethoven-Sinfonie eine Tiefe in die Musik einbringt, die wir so bestimmt noch nicht erlebt haben.

Wofür werden die Einnahmen aus den Konzerten und Spenden verwendet?

Kienle: Da das Orchester in einer schwierigen finanziellen aber auch personellen Lage ist – alle Männer kämpfen an der Front oder sind zum Teil in den Westen geflohen –, müssen wir Berufs-Musikerinnen aus Lviv engagieren, um das Konzert überhaupt durchführen zu können. Zusätzlich zu den Einnahmen aus den Aufführungen werden wir Spenden sammeln. Geplant ist auch eine professionelle Video- und Tonaufnahme, eventuell sogar ein internationaler Live-Stream und die Fahrtkosten sollen ebenfalls von den Spenden gedeckt werden.

Zu den Personen

Sophia Weidemann
Die 30-Jährige ist in Aichtal (Kreis Esslingen) aufgewachsen. Sie studierte an der Musikhochschule Stuttgart, an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien und an der Jāzeps Vītols Akademie für Musik in Riga. Weidemann ist erste Preisträgerin in nationalen und internationalen Wettbewerben in Italien, Paris und Wien, sowohl als Solistin wie auch als Kammermusikerin.

Friederike Kienle
Die Musikerin absolvierte ihre Ausbildung bei Professor Tetsuya Shimono in Tokyo und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Sie dirigierte renommierte Orchester wie die Münchner Symphoniker und das SWR-Symphonieorchester und leitete internationale Produktionen in den USA, Bulgarien und Japan. Seit 2020 ist sie Dirigentin des Ensemble Balance in Stuttgart und leitet das Nürtinger Kammerorchester. Kienle ist zudem als international gefragte Cellistin auf den großen Bühnen der Welt zuhause.