Trotz Schulpflicht können viele Menschen in Deutschland nur unzureichend lesen und schreiben. Nun sollen in Unternehmen Mentoren als Ansprechpartner ausgebildet werden.

Stuttgart - Tim-Thilo Fellmer war sechs Jahre alt, als er eingeschult wurde. Er hat den Hauptschulabschluss in der Tasche. Richtig lesen und schreiben lernte er in der Schule dennoch nicht. „Ich kam mit den Methoden in der Schule nicht zurecht“, erinnert er sich. „Ich fühlte mich jeden Tag überfordert“, erzählt der 47-Jährige. Die Probleme setzten sich in der Ausbildung zum Kfz-Mechaniker fort. „Es war für mich schwierig, Arbeitskarten auszufüllen“, sagt er. Auch zum Schaden des Arbeitgebers. Denn teilweise hat er Reparaturen erledigt, die dem Kunden nie in Rechnung gestellt wurden – weil er die Arbeiten nicht auf die Kundenkarte schreiben konnte. Fellmer war Mitte 20, als er bei der Volkshochschule das Versäumte nachholte.

 

Heute sieht er sich als Botschafter des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung. Fellmer ist Buchautor. Und er unterstützt das Projekt „Mento“ des DGB Bildungswerkes Bund, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Mit diesem Projekt, dass jetzt auch in Baden-Württemberg startet, soll Lese- und Schreibunkundigen in Betrieben dabei geholfen werden, einen geeigneten Bildungsweg für sich zu finden. Ziel der Kampagne ist, Mitarbeiter zu Mentoren auszubilden, die dann Kontakt zu den Analphabeten aufnehmen. In den Pilotprojekten gibt es bereits 140 Mentoren.

Kurse bei Volkshochschulen

Zwar bieten Volkshochschulen Kurse für Analphabeten an – rund 40 000 Menschen würden in Deutschland entsprechend geschult –, doch wer etwa in wechselnden Schichten arbeitet, kann die Termine nicht wahrnehmen. Der DGB strebt Lösungen in den Unternehmen an, die dann möglichst von den Firmen finanziert werden.

Denn Fellmers Probleme sind keine Ausnahme. Trotz Schulpflicht können in Deutschland rund 7,5 Millionen Menschen nur unzureichend lesen und schreiben, hat die „Leo-Studie“ der Universität Hamburg ergeben. Die Untersuchung stammt aus dem Jahr 2011, aktuellere Zahlen gibt es nicht. In Baden-Württemberg sollen rund eine Million Menschen betroffen sein. „Das ist eine erschreckend hohe Zahl“, sagt Nikolaus Landgraf, der Bezirksvorsitzende   des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Baden-Württemberg. Wer nun gleich an Migranten denkt, dem sei gesagt: Mehr als 50 Prozent der Betroffenen haben Deutsch als erste Sprache gelernt, geht aus der „Leo-Studie“ hervor.

Betroffene häufig im Niedriglohnbereich

„Das ist kein gutes Zeugnis für das deutsche Bildungssystem“, so Landgraf. Mehr als 60 Prozent der Betroffenen arbeiten in Unternehmen und in der Verwaltung; überwiegend im Niedriglohnbereich. Doch solch einfache Arbeiten gibt es hierzulande immer seltener. „Im Zuge der wachsenden Komplexität von Produktionsprozessen wird sich dieser Trend noch weiter verstärken“, so Landgraf. Für die Betroffenen führt der Weg häufig in die Arbeitslosigkeit. Aber auch beim etwaigen Arbeitgeber können Kosten anfallen – etwa weil ein Mitarbeiter mit Leseschwäche nur mit großer Kraftanstrengung, und damit Zeitaufwand, eine Arbeitsanweisung entziffern kann. Oder weil eine Maschine falsch bedient wird, weil die Anweisung nicht verstanden wurde. Wie hoch die volkswirtschaftlichen Kosten sind, dazu gibt es keine Untersuchungen. Dabei sind die Betroffenen nicht dumm, erläutert Landgraf. Sie haben intelligente Strategien entwickelt, um ihr Problem zu kaschieren, fügt er hinzu. Teilweise haben sie eine gute bildliche Vorstellungskraft.

Dennoch scheint das Interesse der Unternehmen eher verhalten. In den Pilotbezirken wurden fünf große Betriebe gewonnen – darunter Thyssen-Krupp Steel, der Hamburger Hafen und die Berliner Verkehrsbetriebe. In Baden-Württemberg wurde Kontakt zu ZF Lenksysteme und zu Festo aufgenommen. Ein offizielles Gespräch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann soll noch folgen, so Landgraf.