Am Stuttgarter Fanny-Leicht-Gymnasium sind am Mittwoch Achtklässler über Achtklässler zu Gericht gesessen. Der Prozess war gespielt, Richter und Polizistin echt. Gleich zwei Minister eröffneten das landesweite Projekt „Rechtsstaat macht Schule“.

Das Objekt der Begierde: ein Sony-Kopfhörer im Wert von 299 Euro. Angeklagt: zwei Schüler des Stuttgarter Fanny-Leicht-Gymnasiums. Tatvorwurf: Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Was war geschehen? Steve und Dennis sollen den viel jüngeren Jonas auf dem Schulhof mit Gewalt – Schlägen auf den Kopf – gezwungen haben, ihnen seinen Kopfhörer zu geben. Eine Mitschülerin sah das, traute sich aber nicht einzugreifen, holte den Hausmeister zu Hilfe – und nun landet die ganze Geschichte vor Gericht. Der Gerichtssaal ist die Mehrzweckhalle des Fanny, der Staatsanwalt ein Schüler. Der Richter: echt. Die Polizistin als Zeugin: echt. Der Prozess: ein Planspiel.

 

Es markiert den Auftakt des landesweiten Projekts „Rechtsstaat macht Schule“. Und dieser bescherte dem Fanny prominente Gäste. Innenminister Thomas Strobl und Justizministerin Marion Gentges (beide CDU), deren Ministerien das Projekt entwickelt hatten, erklären den Achtklässlern, weshalb die drei Doppelstunden so wichtig sind, in denen ihnen vermittelt werden soll, wie ein Rechtsstaat funktioniert – nicht nur in der Theorie, sondern in praktischen Übungen und Rollenspielen.

Strobl: „Man darf nicht weghören und wegschauen“

„Viele denken, dass es selbstverständlich ist, in einer Demokratie und in Freiheit zu leben“, sagt Strobl – „nichts ist selbstverständlich“. Auch Frieden sei es nicht. „Unsere Demokratie ist unter Stress, von außen, aber auch von innen“, erklärt der Innenminister. „Hass und Hetze, das geht nicht, Antisemitismus ist inakzeptabel.“ Doch es reiche nicht aus, es nicht zu tun. Man dürfe auch nicht weghören und wegschauen, wenn andere es machen, so Strobl. „Und jetzt kommt der Werbeblock.“ Die Polizei suche Nachwuchs, das sei „ein ziemlich cooler Job mit vielen Möglichkeiten“.

Justizministerin Gentges macht deutlich, wie grundlegend wichtig dieser Rechtsstaat sei, dessen Rechtsprechung auf Gesetzen basiert. „Das ist nicht überall in der Welt so.“ Aber, so Gentges: „Es funktioniert nur, wenn wir uns alle miteinander darum kümmern.“ Das dürfe dann auch schon mal Spaß machen, so wie beim Prozess als Rollenspiel. „Stellt Fragen!“, empfiehlt sie.

Es gibt viel zu lernen: von der Robe bis zur Sitzordnung

Doch der Achtklässler Alexander meint hinterher, vieles, was die Minister da gesagt hätten, habe er schon gewusst. Aber generell sei es „mal cool, so eine Rede live zu erleben“. Nicht gewusst haben allerdings viele Achtklässler, wie es denn so abgeht in einem Prozess, angefangen von der Sitzordnung über die Roben bis hin zur festgelegten Abfolge der Redebeiträge. Nur die „Zeugen“ dürfen ausnahmsweise schon zu Beginn der „Verhandlung“ im Saal Platz nehmen. Sind ja Schüler und sollen was lernen.

Bei der Sitzung flutschen die Beiträge. Zwar hat der „Staatsanwalt“ noch etwas Mühe beim Verlesen der Anklage, aber wie soll ein Achtklässler Ahnung vom Gerichtssprech haben. Umso lockerer fällt den beiden „Angeklagten“ die Schilderung des Tathergangs. Tja, sie hätten ja auch gern so einen Kopfhörer gehabt und so hätten sie ihn sich eben mit ein paar Schlägen auf den Kopf des Opfers gesichert, ohne groß drüber nachzudenken. Auch ihre „Verteidiger“ zeigen sich gut in Form und verweisen auf die schwierigen Familienverhältnisse und sozialen Hintergründe ihrer Mandanten.

Der Richter führt Regie und ist echt

Zug in die Sache bringt Sebastian Sonn. Statt seinem Richterberuf in der 13. Zivilkammer des Landgerichts nachzugehen, mimt er jetzt den Richter eines Jugendschöffengerichts. Und wieder und wieder hakt er nach, will jedes Detail wissen. Wer hat wann was gesehen und wie zugeschlagen und was geleugnet und wann eingeräumt? Auch die „Schöffinnen“ nehmen ihren Job ernst, löchern die „Angeklagten“, fragen bei den „Zeugen“ nach. Von denen sind nur der „Hausmeister“ und das „Opfer“ Schüler, die Polizistin ist echt, samt Uniform und Waffe. Und dann die Entscheidung.

Trotz der „ganz erheblichen Straftaten“ fällt das Urteil wegen der Unbescholtenheit der Jugendlichen mild aus: 40 und 30 Stunden gemeinnützige Arbeit, zu vermitteln durch das Jugendamt, plus Antiaggressionstraining für die „Straftäter“. Und dann macht einer der „Strafverteidiger“ einen Fauxpas: „Kann man jetzt noch was sagen, was die Strafe ändert?“, fragt er. Natürlich nicht. Beide Angeklagten verzichten auf Rechtsmittel, akzeptieren also den Richterspruch. Damit ist das Urteil rechtskräftig.

Ganz anders als in amerikanischen Filmen

Die Mitschüler zeigen sich beeindruckt: „Man sieht’s ja oft in amerikanischen Filmen, aber das hier ist ganz anders“, meint Sunnika. „Gut, dass es ein richtiger Richter und eine richtige Polizistin waren“, das sei anders, als wenn das ein Lehrer mache. Auch Fanny ist froh, „dass man einen Eindruck davon bekommt, wie das wirklich abläuft“.

Hochzufrieden ist neben der Rektorin Antje Rannert auch Richter Sonn, der vom Improvisationstalent der Schüler begeistert ist. Er organisiert das neuartige Format seitens der Justiz. „Es ist eine Bildungsmaßnahme, aber auch eine Anwerbemaßnahme.“ Es gebe gleichermaßen großes Interesse seiner Kollegen und der Schulen, darunter auch von Brennpunktschulen.

Landesweites Projekt „Rechtsstaat macht Schule“

Programm
 Das Projekt „Rechtsstaat macht Schule“ wird vom Justiz- und dem Innenministerium gemeinsam umgesetzt. Es richtet sich an Schulklassen der Sekundarstufe I aller weiterführenden Schulen in Baden-Württemberg.

Angebot
 Der Unterricht besteht aus mindestens drei Doppelstunden, die die Lehrkräfte gemeinsam mit Polizisten, Richtern, Staatsanwältinnen und Rechtsanwältinnen gestalten. Dazu gehört ein Planspiel, in dem eine Gerichtsverhandlung improvisiert wird. Optional kann in der vierten Doppelstunde eine echte Verhandlung besucht werden. Das Programm hat ein Volumen von 20 Millionen Euro. Mehr als 400 Experten aus Justiz, Polizei und Anwaltschaft machen mit.