Seit Mai wertet diese Zeitung gemeinsam mit dem Stadtarchiv im Geschichtsprojekt Stuttgart 1942 einen Fundus aus rund 12 000 Bildern aus. Am Sonntag war das Projekt auf dem Kulturwasen zu Gast. 250 Interessierte gingen mit auf Zeitreise.

Stuttgart - Die Bilder auf der Leinwand des Stuttgarter Kulturwasens waren längst verblasst, da schüttelte Helga Reinhart immer noch verblüfft den Kopf. Großartig sei die Zeitreise ins Jahr 1942 gewesen, so ihr Urteil am Sonntagmittag. Und wer könnte das besser fällen als die 85-jährige Stuttgarterin? „Ich war sieben Jahre alt, als ich mit meiner Oma in den Wagenburgtunnel gerannt bin, um den Fliegerangriffen zu entgehen.“

 

Der Wagenburgtunnel als rettendes Refugium – mehr als ein halbes Jahrhundert lang schlummerten diese Bilder aus dem Jahr 1942 in den Köpfen von Zeitzeugen wie Helga Reinhart. Ihren Weg auf die Kinoleinwand des Kulturwasens haben sie am Sonntagmittag im Rahmen einer Matinee zu „Stuttgart 1942“ gefunden, zu der unsere Redaktion und das Stadtarchiv Stuttgart eingeladen hatten.

Seit Mai wertet unsere Redaktion im Rahmen des gleichnamigen Geschichtsprojekts gemeinsam mit dem Stadtarchiv einen Fundus aus rund 12 000 Bildern aus, die das noch unzerstörte Stuttgart im Jahre 1942 zeigen, aufgenommen von Bediensteten der Stadt. Eine eigens programmierte Datenbank hilft bei der Suche nach Straßenzügen, hinzu kommen Begleitartikel und Webprojekte, die auf große Leserresonanz gestoßen sind.

Kompetente historische Reiseleiter

Auch bei der Matinee herrscht großer Andrang. Auf Sitzlogen und Autos verteilt trotzten am Sonntagmittag rund 250 Geschichtsinteressierte der sengenden Hitze. Die erwies sich während der neunzigminütigen Matinee als einzige echte Herausforderung. Auf der Bühne gelang den Moderatoren Jan Sellner, Lokalchef unserer Zeitung, und Datenjournalist Jan Georg Plavec indes eine kurzweilige Zeitreise ins Stuttgart des Jahres 1942 mit dem Stuttgarter Stadtarchivar Roland Müller und dessen Stellvertreterin Katharina Ernst als kompetente historische Reiseleiter. Ihr fotografischer Stadtrundgang vorbei am alten Rathaus, entlang der Königstraße und weiter zur ehemaligen NS-Gauleitung an der heutigen Kriegsbergstraße und vielen anderen Stationen war gespickt mit fachkundigen Einordnungen – und ohne jeden verklärenden Unterton, denn so unversehrt das Stuttgart des Jahres 1942 äußerlich war, so fortgeschritten waren der Krieg und der nationalsozialistische Terror. „Das Jahr 1942 war ein Eskalationsjahr“, sagte Roland Müller und brachte dies dem Publikum eindrucksvoll nahe. Das war auch aus seiner Sicht ein Gewinn: „Einem so großen Publikum einen visuellen Einblick ins Jahr 1942 zu ermöglichen, ist für uns gerade in der Corona-Zeit etwas ganz Besonderes.“

Doch es blieb nicht nur bei eindrücklichen Bildern: Was für eine Rechercheleistung hinter den Artikeln steckt, ließen die Autorinnen Hilke Lorenz und Heidemarie Hechtel erahnen. In stundenlanger Detektivarbeit haben sie sich, wie andere Kollegen auch, den Fotos aus journalistischer Perspektive angenähert und sie zum Sprechen gebracht – ein Puzzlespiel, das noch lange nicht beendet ist und mindestens bis in den Herbst hinein andauern soll.

Wichtig sind Gespräche mit Zeitzeugen

„Wenn ich recherchiere, möchte ich mir mehr als nur Akten anschauen, um ein Gefühl für die damalige Zeit zu bekommen. Gerade deswegen sehe ich in diesem Projekt eine überwältigende Chance“, so Lorenz, die sich in ihren Artikeln auf das jüdische Leben in Stuttgart spezialisiert hat. Ihre Kollegin Heidemarie Hechtel pflichtete ihr bei. Die erfahrene Journalistin und Stuttgart-Kennerin ist für das Geschichtsprojekt unter anderem in die Stuttgarter Gastronomie- und Modewelt der 40er Jahre eingetaucht. Ihr Fazit: „Es lohnt sich – besonders wenn man während der Recherche auf Zeitzeugen trifft.“

Wie Zeitzeugen durften sich am Ende sogar die vielen jüngeren Besucher der Matinee fühlen: Mittels eines Computerprogramms wurde ein Teil des schwarz-weißen Fotos eingefärbt und auf der riesigen Leinwand gezeigt. Mehr als ein Versuch, die Vergangenheit näher an die Gegenwart zu rücken, könne das aber nicht sein, merkte der Stadtarchivar an: „Als Historiker sind wir bemüht, die authentischen Quellen zu erhalten und Rekonstruktionen am Computer auch nur als solche zu betrachten.“

Für Katharina Ernst ist der Bilderbestand „ein wahrer Schatz“. Etliche Aufnahmen daraus werden auch in Magazinform zu sehen sein. „Am 30. Oktober wollen wir ein Foto-Magazin zu Stuttgart 1942 an die Kioske bringen“, verkündete Jan Sellner zum Abschied. Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis der Stadt – sie geht auch nach der Matinee weiter.