Luis S. war computerspielsüchtig. Nun engagiert sich der 24-Jährige als Betroffener in einem Projekt, das sich an gefährdete Jugendliche und ihre Eltern richtet. Dabei geht es auch um Prävention.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Wie viel Zeit ihr Sohn Felix mit Zocken verbringt? Susanne M. (Namen geändert) weiß es nicht genau. Sie weiß nur, dass es ihr „zu viel“ ist, zu viel Medienkonsum insgesamt. Wobei der 15-Jährige selbst das anders sehe. Schon morgens am Frühstückstisch hat er das Smartphone in der Hand. „Dieser ständige Griff nach dem Ding“ nervt seine Mutter. „Medien sind bei uns sehr oft ein Thema“, sagt die 49-jährige Stuttgarterin. Heizen müsse man Felix’ Zimmer eigentlich nicht. Der Spielecomputer sorge für genug Wärme. Sie schätzt, dass Felix von 14 bis 22 Uhr vor dem Rechner sitzt. Genauen Einblick hat sie nicht. „Er macht immer die Tür zu.“

 

Dennoch hat sie nicht das Gefühl, dass ihr Sohn tatsächlich süchtig ist. Dass ihm die Kontrolle über sein Leben entglitten ist. Er treffe sich weiterhin in der realen Welt mit Freunden – geht Skateboard fahren und Fußball spielen. In der Schule sei er bisher nicht abgesackt. Aber sie hat Sorgen, dass sich das ändern könnte. Sie könne nicht einschätzen, wie problematisch Felix’ Medienkonsum eigentlich sei.

Eine Pädagogin und ein Betroffener leiten die Sprechstunde

Als Susanne M. zufällig von einem Angebot der Fachstelle für Medien- und Glücksspielsucht am Stuttgarter Itas-Institut hörte, war sie gleich interessiert: eine digitale Sprechstunde zum Thema Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen. Das Projekt wird von der Suchttherapeutin Karin Ibele-Uehling koordiniert und von Ehrenamtlichen im Tandem betreut. Der Ansatz ist niederschwellig – man muss sich nicht anmelden, die Teilnahme ist kostenlos. Jeweils eine Pädagogin und ein selbst von Mediensucht Betroffener leiten die Sprechstunde. Anlass für das Projekt sei gewesen, dass die Anfragen gestiegen seien von Eltern, die befürchteten, ihre Kinder seien in der Pandemie, während der Schulschließung, von digitalen Medien abhängig geworden, erklärt Ibele-Uehling, die die Tandems professionell begleitet. Zielgruppe der Sprechstunde sind auch die Gefährdeten. Eben Jungen wie Felix. „Der präventive Gedanke ist wichtig: Ist es schon Sucht, oder kann man noch gegensteuern?“, erklärt die Therapeutin.

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Langfristig sei zudem angedacht, die Sprechstunde auch in Präsenz anzubieten. Susanne M. ist hingegen froh über das digitale Angebot. Nur so konnte sie ihren Sohn überreden teilzunehmen. Extra irgendwo hinfahren? Sie glaubt nicht, dass das geklappt hätte. Felix sei erstaunlich lange an dem Abend dabeigeblieben. Und das habe vor allem an Luis S. gelegen. Der 24-Jährige war selbst mediensüchtig, er ist einer der Ehrenamtlichen aus dem Team – und einer, der den „richtigen Ton“ trifft, wie Susanne M. meint.

Irgendwann wusste er nicht mehr, welcher Wochentag ist

„Ich war sehr viel alleine für mich“, erzählt Luis S. seine Vorgeschichte. Ihm seien von seinen Eltern, die sich trennten, als er im Grundschulalter war, quasi keine Grenzen gesetzt worden. So habe er „sehr, sehr viel Zeit vor dem Rechner verbracht“. Irgendwann wusste er nicht mehr, welcher Wochentag ist. „Die Zeit verschwimmt einfach.“

Luis S. war bei Karin Ibele-Uehling in Einzeltherapie. Warum er sich jetzt engagiert? „Ich will den Leuten helfen, dass sie ihr Leben leben und nicht vor dem Rechner dahinvegetieren“, sagt er. Und er kann am eigenen Beispiel zeigen, dass es nicht um völlige Abstinenz geht. „Es geht um den kontrollierten Umgang“, erklärt Ibele-Uehling. Luis S. besitzt weiter Computer und Smartphone. Aber er versucht, die Versuchung gering zu halten. Wird nun morgens vom analogen Wecker wach. Liest zum Kaffee die gedruckte Zeitung, erst danach schaue er aufs Handy. Teil seiner Therapie ist, dass der studierte Medienmanager noch eine Ausbildung macht: in einer Schreinerei. Dort kommt das Smartphone in den Schrank, wird erst in der Mittagspause angemacht. „Das sind kleine Sachen, die sehr gut funktionieren“, sagt Ibele-Uehling.

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„Man muss nicht immer auf Highspeed sein“

Susanne M. hat die Sprechstunde eher beruhigt. Sie weiß jetzt, dass es ein gutes Zeichen ist, dass Felix noch analoge Hobbys hat und sich zu Hause mitteilt. „Wenn man merkt, dass alle anderen Sachen wegfallen, dass alles abgelehnt wird und man nur noch vorm Rechner hängt, ist das ein Riesenwarnsignal“, erklärt Luis S. Der Ehrenamtliche ist froh, selbst auf einem guten Weg zu sein. Die Entschleunigung bekommt ihm. Das ist auch die Botschaft, die er weitergibt: „Man muss nicht immer auf Highspeed sein.“

Offene Sprechstunde und weitere Angebote

Termine
Die offene Sprechstunde der Fachstelle Medien- und Glücksspielsucht findet immer montags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr statt. Die Links finden sich unter: https://itas-institut-stuttgart.de/sucht. Auch Projekte in Schulen und Elternabende bietet das Team an – dies aber dann nicht kostenlos.

Weitere Anlaufstellen
Release U21 richtet sich an unter 21-Jährige und bietet neben einer Online-Beratungsstelle das Projekt Netzpause an, bei dem Jugendliche, Angehörige und Multiplikatoren Unterstützung erhalten. Auch Präventionsveranstaltungen an Schulen führt Release U21 durch. Die Fachstelle für Glücksspiel- und Medienkonsum der Evangelischen Gesellschaft informiert, berät und unterstützt ebenfalls Menschen, die einen problematischen Medienkonsum haben, sowie deren Angehörige. Sie ist unter Telefon 07 11 / 20 54 - 3 45 und unter Behandlungszentrumsucht@eva-stuttgart.de zu erreichen. vv