Für den Fellbacher Weinmacher Gert Aldinger und seine Frau Sonja sind zwei Bronzefiguren des Bildhauers Karl Ulrich Nuss nicht nur ein Blickfang vor dem Fenster zum Kappelberg. Sie erzählen auch viel

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

Fellbach - Das Objekt der Begierde ist ein Bronzeguss und steht auf einem massiven Sockel aus Eichenholz im Esszimmer von Sonja und Gert Aldinger. Nein, die Skulptur steht nicht, sie thront. Raumgreifend vor einer Fensterfront, die den Blick freigibt in den Garten und auf die Weinberge am Fellbacher Kappelberg (Rems-Murr-Kreis). Ein Blickfang vor dem Blickfang. Wie gemacht, um sich Gedanken zu machen über die Kunst und über das Wichtige im Leben.

 

Geschaffen hat die Skulptur der Strümpfelbacher Bildhauer Karl Ulrich Nuss. „Hochziehen“ ist der naheliegende Titel, weil die Bronzeplastik genau das zeigt. Zwei Figuren sind zu sehen, die sich für einen Kraftakt die Hände reichen. Der Mann ist unten, das Weible muss schauen, dass er nicht ins Bodenlose stürzt. „Das Weib zieht, so ist es im Leben halt“, sagt Gert Aldinger und tätschelt der Bronze-figur verträumt das rundliche Hinterteil.

Das Weible und der hilflose Mann

Gefallen hat Sonja und Gert Aldinger die Skulptur des 1943 geborenen Künstlers gerade wegen des unübersehbaren Symbolcharakters: „Du brauchst immer einen Partner, der dich zieht. Und ein starker Mann hat immer auch eine starke Frau“, beschreibt der Weinmacher die Botschaft der beiden Figuren. Fast zwei Jahrzehnte haben die Aldingersdas Weible und den ohne ihre Hilfe hilflosen Mann bewundert.

Gekauft haben sie das Kunstwerk vor vier Jahren, zum 35. Hochzeitstag. Und just zu einem Zeitpunkt, als Gert Aldinger durch einen komplizierten Handbruch außer Gefecht gesetzt war. Über den Kaufpreis schweigt sich Fellbachs Vorzeige-Wengerter aus.

Karl Ulrich Nuss hätte das Paar ja am liebsten auf einen Betonsockel gesetzt und in den Garten gestellt. Doch die Aldingers wollten die zwei Figuren im Blick haben, wenn sie am großen Tisch zur Ruhe kommen. Holländische Meister hängen da, Stillleben mit Weintraube und Meeresgetier. Ein Bild von Vater Gerhard Aldinger, das ein Alpenpanorama zeigt, das der 2016 verstorbene Seniorchef aus der von Postkarten-Idyllen gespeisten Fantasie gemalt hat. Gleich nebenan vor dem Kamin steht ein Couchtisch mit den so charakteristischen Nuss-Figuren. Und auch ein Gemälde des früheren Rems-Murr-Landrats Horst Lässing hat hier seinen Platz. Der war in seinen Amtsjahren als hemdsärmeliger Haudegen bekannt, als Kreisfürst vom alten Schlag und nicht als feinsinniger Kunstfreund. Das gefällt Aldinger: „Der Lässing, der hat sich im Ruhestand wirklich gewandelt, menschlich“, stellt er fest.

Mut zur Veränderung

Da schwingt Respekt mit für einen Querdenker und den Mut zur Veränderung. Und das wiederum passt zu einem Mann, dem es beruflich wie privat nicht so wichtig war, was die Leute denken. Mit seiner Sonja beispielsweise hat der Gert drei Jahre in „wilder Ehe“ gelebt, bevor er sie geheiratet hat. Im pietistisch geprägten Wengerterdorf war das ein Affront sondersgleichen. „Die Leute sind schier ausgerastet“, erinnert sich Aldinger lachend. Er hat sich auch nicht um die Meinung der Wengerterkollegen geschert, als er sich an internationalen Rebsorten versuchte. Als Württemberg zu überlegen begann, ob auf den besten Lagen wirklich Trollinger wachsen muss, hatte Aldinger längst Merlot und Cabernet Sauvignon gepflanzt. Als sich unter Wengertern langsam die Erkenntnis durchsetzte, dass es nur mit einer konsequenten Ertragsreduzierung auch herausragende Qualitäten gibt, testete der König vom Kappelberg schon, ob sich die geschmackliche Dichte mit technischem Wasserentzug noch steigern lässt.

In dem seit 1492 bestehenden Weingut im Gewirr der Altstadtgassen wurden Holzchips als Barriquefass-Ersatz ausprobiert und die Gärung im Beton-Ei getestet. Tradition lebt nur, wenn sie vom Fortschritt auf die nächste Ebene gezogen wird. Nur bei der Frage, ob im Weinmacher Gert Aldinger auch ein Künstler steckt, tut sich der 62-Jährige ein wenig schwer: „Ich bin ein Wengerter, also Landwirt. Und ich bin ein Küfer, also Handwerker. Aber wer sich vorher überlegt, wie ein Wein schmecken soll, der ist schon auch ein Künstler – jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt.“