Sandra Norak ist noch Schülerin, als sie aus Liebe zu einem Mann in der Prostitution landet. Sechs Jahre später gelingt ihr der Ausstieg. Sie sieht den Staat in der Pflicht, den Sexkauf zu verbieten.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Mainz - Sandra Norak hat einen weiten Weg hinter sich. In den letzten neun Tagen war sie Teil einer Gruppe, die 207 Kilometer zurückgelegt hat. Von Straßburg nach Mainz. Sie war etappenweise unterwegs mit neun Frauen aus Irland, Frankreich, Rumänien, Südafrika, Kanada, den USA und Deutschland. Auf der Europabrücke in Kehl haben sie sich zum Gruppenfoto aufgestellt. An der französisch-deutschen Grenze treffen zwei Länder aufeinander, die eine sehr unterschiedliche Prostitutionsgesetzgebung haben. In Frankreich gilt seit 2016 das nordische Modell. Sexkauf ist verboten. In Deutschland ist Prostitution seit 2002 liberalisiert worden. Kein Freier macht sich strafbar.

 

207 Kilometer für Gerechtigkeit

Die Frauen haben ihre Wanderung den „Marsch der Überlebenden“ genannt. Denn überlebt hat jede von ihnen Jahre in der Prostitution. Verglichen damit waren die 207 Kilometer die kürzeste Wegstrecke auf dem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Auf dem 3. Weltkongress gegen die sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen erheben sie nun ihre Stimme – und fordern das nordische Modell. Frauen aus 23 Ländern tagen für drei Tage in Mainz, um Erfahrungen auszutauschen, vor allem aber ihre Forderungen an die Politik mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu untermauern. Per-Anders Sunesson, der für Menschenhandel zuständige schwedische Botschafter berichtet, dass inzwischen 80 Prozent der Schweden für das Modell sind. Für ihn ist es der einzige Weg, die Nachfrage nach der Ware Frau einzudämmen. Über 70 Nichtregierungsorganisationen haben am Donnerstag die Mainzer Erklärung verfasst. Sie hat das Ziel, in Deutschland bis Ende des Jahres einen Gesetzgebungsprozess in Gang zu setzen. Sandra Norak gehört zu den ersten Unterzeichnerinnen. Für sie ist Prostitution eine Form moderner Sklaverei.

Mainz - Sandra Norak studiert heute Jura, steht mitten im Examen. Früher wollte sie Meeresbiologin werden. „Ich hatte Träume wie jede andere“, sagt die 29-Jährige. Dass sie nun vielleicht Anwältin wird, hat viel mit dem zu tun, was sie erlebt hat. Darüber, dass sie sich sechs Jahre lang in Bordellen rund um Nürnberg prostituiert hat, spricht sie, weil sie aufrütteln will. Und weil sie weiß, dass Prostituierte kein Beruf wie jeder andere ist. Sandra Norak ist eine der Frauen, die der Forderung nach einer Gesetzesänderung ein Gesicht, vor allem aber Authentizität geben. Denn ihre Geschichte zeigt, dass das Private sich in einem gesellschaftlichen Klima bewegt, das durch politische Entscheidung geprägt ist.

Der Freund täuscht Liebe vor

Sandra Noraks Abdriften in die Welt der Prostitution begann, als sie noch Schülerin war. Ihre Mutter ist psychisch schwer krank. Die Tochter war mehr oder weniger sich selbst überlassen, als sie im Internet die Bekanntschaft eines Mannes machte. Er war älter als sie, aber er verstand sie. Er nutzte ihre Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit aus. Sie begleitete ihn zu Treffen mit Freunden in die Cafés mehrerer Bordelle. Sie hatte ein komisches Gefühl dabei, er aber sagte, das sei ganz normal. Das sagte er auch, als er vermeintlich in Geldnot war und sie für kurze Zeit für ihn anschaffen sollte. Die junge Frau überwand ihren Ekel und ihre Angst – und war gefangen in einem System, „in dem man irgendwann aufhört, sich als Mensch zu fühlen.“ Nur, wer seinen Körper von seinen Gefühlen abspaltet, hält das aus“, sagen Studien. „In diesem Zustand wehrt man sich nicht“, sagt Sandra Norak. Prostitution zerstöre. Oft werde dieser Zustand von Freiern dann als Freiwilligkeit gedeutet, belegt eine Freierbefragung der Psychologin Melissa Farley. Dennoch seien viele der Meinung, durch Geld die Berechtigung zur Vergewaltigung zu kaufen, und sprechen das auch so aus. Für die Kunden sei das eine Form, Frauen zu beherrschen, fasst Melissa Farley die Interviews zusammen.

Nach sechs Jahren ist sie bereit zum Ausstieg

„Der Staat akzeptiert diese Gefangenschaft durch seine Gesetzgebung,“ sagt Norak. Dabei habe er eine Schutzpflicht gegenüber der Würde jedes Einzelnen. Ihr Zuhälter brachte sie zeitweise in ein Flatratebordell, wo sie in einem Monat 500 Freier bedienen musste. Es war unter anderem der Anblick des Schicksals der anderen Frauen, der ihr 2013 die Kraft gab, ihren Ausstieg zu planen. 2014 schaffte sie es. Doch vorbei ist der Kampf noch nicht.