Ende Juli will die Regierung die Justizreform beschließen. Doch Zehntausende protestieren auf Israels Straßen gegen die Neuerungen. Kritiker sehen zu weitreichende Möglichkeiten politischer Einflussnahme.

Trotz einer beispiellosen Protestwelle scheint Israels Regierung entschlossen, ihre umstrittene Justizreform voranzutreiben: Am Montagabend sollte ein erstes Element der geplanten Reform als Gesetzesentwurf dem Parlament vorgelegt werden. Zwar sind nach dieser ersten Abstimmung noch zwei weitere nötig, doch da die Koalitionsparteien im Parlament über eine stabile Mehrheit verfügen, dürfte es sich dabei um eine Formsache handeln. Bis Monatsende will die Regierung das Gesetz beschließen.

 

Der Entwurf zielt auf die sogenannte Doktrin der Angemessenheit ab, der zufolge der Oberste Gerichtshof bislang Entscheidungen der Regierung als unangemessen und damit nichtig erklären kann. Der Gerichtshof wandte diese Doktrin beispielsweise an, als er den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu daran hinderte, den Vorsitzenden der ultraorthodoxen Shas-Partei, Aryeh Deri, zum Innen- und Gesundheitsminister zu küren. Deri wurde mehrfach wegen Steuervergehen verurteilt und war 2021 im Rahmen einer Verständigung mit dem Gericht von seinem Parlamentssitz zurückgetreten.

Doktrin als Mittel gegen Korruption

Doktrin als Mittel gegen Korruption

Die „Doktrin der Angemessenheit“ ist nicht im Gesetz verankert, lässt sich aber aus den israelischen Grundgesetzen ableiten und wird vom Obersten Gerichtshof seit Jahrzehnten angewandt. Befürworter der Reform werfen dem Gericht vor, die Anwendung der Doktrin in den 90er Jahren erheblich ausgeweitet zu haben und sie seitdem zu missbrauchen, um sich in politische Entscheidungen einzumischen. Die „Doktrin der Angemessenheit“ bedeute, „zu wissen, dass am Ende ein Richter kommt und für dich entscheidet, wenn deine Entscheidung ihm nicht gefällt“, schrieb kürzlich Simcha Rothman von der ultrarechten Partei Religiöser Zionismus und eine der treibenden Kräfte hinter der Reform auf Twitter. „Das ist die Herrschaft der Richter und Juristen.“

Gegner der Maßnahme argumentieren, die Doktrin sei ein wichtiges Mittel in der Hand des Gerichts, korrupte oder willkürliche Personalentscheidungen zu stoppen. Andernfalls könnte etwa Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit und Vorsitzender der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke, Posten in der Polizei „mit Leuten füllen, die ihm gefallen“, so die Rechtsexpertin Rivka Weill von der Reichman University in Herzliya. Kritiker der Regierung halten dieses Szenario für umso gefährlicher, als Ben-Gvir die Polizei regelmäßig dazu drängt, härter gegen Demonstranten vorzugehen.

Doch die Abschaffung der Doktrin könnte noch weitreichendere Folgen haben. „Damit wäre es viel leichter, die Generalstaatsanwältin zu entlassen“, sagt Weill. Kritiker Netanjahus spekulieren schon lange, dass darin eines der wichtigsten Ziele des Regierungschefs verborgen liegt: Dieser könnte dafür sorgen, dass die Person, die der amtierenden Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara nachfolgte, ihm wohlgesinnter wäre – und womöglich sogar Schritte unternehmen könnte, um den Gerichtsprozess gegen Netanjahu wegen Verdachts auf Korruption, Untreue und Bestechlichkeit zu stoppen.

Schrittweises Vorgehen der Regierung

Schrittweises Vorgehen der Regierung

Die Organisatoren der Protestbewegung, die sich seit Anfang des Jahres gegen die Reformpläne der Regierung gebildet hat, haben für Dienstag einen „Tag der Störung“ angekündigt. Geplant sind etwa Straßenblockaden, Streiks und Proteste am internationalen Ben-Gurion-Flughafen, und Hunderte Angehörige von Eliteeinheiten der Armee drohen, ihren Reservedienst zu verweigern, sollte der Gesetzentwurf beschlossen werden.

Ebensolche Drohungen waren es, die bereits im März Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant dazu bewogen, sich öffentlich für einen Stopp der umstrittenen Reform auszusprechen. Netanjahu feuerte ihn dafür – nur um kurz darauf selbst die Gesetzgebung einzufrieren und Gallant schließlich doch im Amt zu belassen. Seitdem hat die Regierung ihr Vorgehen verändert und sich in den Worten israelischer Analysten auf eine „Salamitaktik“ verlegt: Anstatt die gesamte Reform zur Abstimmung zu bringen, geht sie nun schrittweise vor. Sollte sie gehofft haben, damit weniger Proteste zu provozieren, hat sie sich offenbar geirrt.