Warum hat die Protestbewegung gerade in Baden-Württemberg so großen Zulauf? Das haben Schweizer Soziologen nun erforscht.
Stuttgart - Wer sind eigentlich die Querdenker, die sich so schwer charakterisieren lassen und warum sind sie in Baden-Württemberg so stark? Den Quellen der heterogenen Bewegung, bei deren Demonstrationen Friedensbewegte mit Reichsbürgern zusammengekommen sind, haben die Soziologen Nadine Frei und Oliver Nachtwey von der Universität Basel im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung nachgespürt – und sie haben durchaus Gemeinsamkeiten der Querdenker zutage gefördert.
Wichtige Rolle der Anthroposophen
Eine große Rolle in der Protestbewegung spielt demnach das anthroposophische Milieu, das in Baden-Württemberg durchaus verbreitet ist. Es ist charakterisiert durch Kritik an staatlicher Einmischung und einem Fokus auf Körper und Gesundheit, vielleicht alternativen Heilmethoden – „die Anthroposophie ist eine ideelle Grundlage der Querdenker“, betont Frei.
Die Forscher stellen auch Wurzeln der Bewegung im ehemaligen linksalternativen Milieu fest, obwohl von den linken Werten wie Solidarität und Gleichheit „im Grunde nichts mehr übrig ist“, wie Frei und Nachtwey in der ersten wissenschaftlichen Analyse der Querdenken-Bewegung in Baden-Württemberg schreiben, die nun in Stuttgart vorgestellt wurde.
Der Verdacht, das christlich-evangelikale Milieu nähre die Querdenker-Bewegung hat sich der Studie zufolge nicht bestätigt. Auch frustrierte Wutbürger, die von Stuttgart 21 übrig geblieben sind, sind kein wesentlicher Bestandteil der Querdenker. „Die S-21 Proteste waren stark vernetzt in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen, die Querdenker sind das eher nicht“, sagte Nachtwey in Stuttgart.
Ein libertäres Freiheitsverständnis, das die Individualität absolut setzt, das Verständnis, dass Regeln, nur legitim sind, wenn man sie selbst gesetzt hat, dazu verschwörungstheoretische und esoterische Grundüberzeugungen – all das prägt nach Ansicht der Wissenschaftler die Querdenken-Bewegung. „Sie fühlen sich als Eingeweihte, als heroische Widerstandskämpfer“, stellt Nadine Frei fest.
Entfremdet von Grundlagen der Demokratie
Die Bewegung sei zudem gekennzeichnet „durch eine tiefe Entfremdung von Kerninstitutionen der liberalen Demokratie“ unterstreicht Nachwey. „Querdenker“ misstrauen allen öffentlichen Institutionen, der parlamentarischen Politik, den Parteien, der Wissenschaft und den Medien. Die Mehrheit ist relativ gebildet. Sie vertrauen mehr auf ihre eigene Recherche, als die der etablierten Wissenschaftler.
„Es ist eine Bewegung der qualifizierten Mitte“, sagt Nachtwey und genau das bereitet ihm Sorgen. Die Leute aus der Mittelschicht gehen auf die Barrikaden, weil sich zum ersten Mal der Staat mit Einschränkungen in ihre Leben einmischt. Sie halten den Individualismus hoch. „Sie wollen andere nicht schützen, erwarten aber von anderen auch keinen Schutz“, hat Nadine Frei festgestellt.
Bewegung tendenziell nach rechts
Die Grunddynamik der Querdenken-Bewegung in Baden-Württemberg ist: „Sie kommt teilweise eher von links, bewegt sich aber nach rechts“. Noch vor vier Jahren haben viele Teilnehmer der Studie nach eigenen Angaben bei der Bundestagswahl die Grünen gewählt.
In der Entstehungsphase der Grünen vor mehr als 40 Jahren spielten das damalige Alternativmilieu und die Anthroposophen durchaus eine Rolle, betonen die Wissenschaftler. Inzwischen habe sich die Partei aber von dieser Traditionslinie entfernt. Für eher staatskritische Gruppen seien die Grünen nicht mehr die Partei der Wahl. Die politisch heimatlos gewordenen wählen gar nicht mehr oder experimentieren mit Formationen wie der Partei „Die Basis“ oder der AfD. Ob die ehemals Linksalternativen auf Dauer zur Rechten überlaufen, sehen Frei und Nachtwey als offene Frage.
Nicht vergleichbar mit Protest in Ostdeutschland
Coronaprotest ist aber nicht gleich Coronaprotest. Die Soziologen machen grundlegende Unterschiede zwischen den Protestbewegungen in Ostdeutschland und in Baden-Württemberg aus. In Baden-Württemberg sind demnach doppelt so viele ursprüngliche Wähler von Grünen und Linken unter den befragten Querdenkern wie bei Teilnehmern der Coronaproteste in Ostdeutschland. Im dortigen Coronaprotestmilieu gibt es wiederum deutlich mehr AfD-Wähler als im Südwesten. Auch trage das Milieu dort deutlich weniger esoterische und anthroposophische Züge als in Baden-Württemberg.
Bei der Studie wurden 1152 Teilnehmer aus einschlägigen Telegram-Gruppen interviewt.