Nach Wochen angespannter Ruhe ist der Machtkampf in der Ukraine blutig eskaliert. Mit Gummigeschossen, Tränengas, Wasserwerfern und Blendgranaten rückte die Polizei am Dienstagabend im Kiewer Stadtzentrum auf die Stellungen der Regierungsgegner vor.

Kiew - Nach Wochen angespannter Ruhe ist der Machtkampf in der Ukraine blutig eskaliert. Mit Gummigeschossen, Tränengas, Wasserwerfern und Blendgranaten rückte die Polizei am Dienstagabend im Kiewer Stadtzentrum auf die Stellungen der Regierungsgegner vor, um das Protestcamp auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan zu räumen. Die Demonstranten antworteten mit Pflastersteinen, Molotow-Cocktails und Feuerwerkskörpern. Das Protestcamp und das Hauptquartier der Regierungsgegner gingen in Flammen auf. Die Zahl der getöteten Menschen stieg in der Nacht zum Mittwoch auf 18. Die meisten Opfer starben durch Schusswunden, wie Vertreter von Behörden und Opposition erklärten. Die Zahl der Verletzten geht in die Hunderte.

 

Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko fuhr am späten Abend zum Amtssitz von Präsident Viktor Janukowitsch, um mit diesem zu sprechen. Zuvor hatte Klitschko den Westen zu einer Intervention aufgefordert. Die Spitzen demokratischer Staaten dürften nicht tatenlos zusehen, „wie ein blutiger Diktator sein Volk tötet“, sagte Klitschko. Das Gespräch mit Janukowitsch brachte indes keine Beruhigung der Lage. Klitschko sagte nach dem Treffen, Janukowitsch habe einen Abbruch des Polizeieinsatzes abgelehnt und die Räumung des Maidan gefordert.

Schützenpanzer fahren auf

Ein gewaltfreier Marsch Tausender Demonstranten zum Parlament war am Vormittag außer Kontrolle geraten. Einige Hundert Demonstranten waren ausgeschert und hatten damit begonnen, das Büro der regierenden „Partei der Regionen“ (PRU) zu stürmen und in Brand zu setzen. Janukowitschs gefürchtete Sondereinheit „Berkut“ vertrieb die Demonstranten. Bei den Auseinandersetzungen soll ein Mitarbeiter der Regierungspartei ums Leben gekommen sein.Regierungsgegner und Sicherheitskräfte gaben sich gegenseitig die Schuld für die Eskalation. Am Nachmittag gab das Innenministerium der Opposition bis zum Abend Zeit, ihre Anhänger unter Kontrolle zu bringen und sofortige Verhandlungen zu beginnen. Gegen Abend fuhren dann in Kiew erstmals seit Beginn der Proteste vor fast drei Monaten Schützenpanzer auf.

Die Eskalation kam überraschend, denn erst am Sonntag hatte die Opposition drei besetzte Gebietsverwaltungen in der aufständischen Westukraine – darunter auch in Lwiw (deutsch: Lemberg) - freiwillig geräumt. In Lwiw wurden sogar weitere Barrikaden abgebaut, auch verschwand ein Protestzelt beim Eingang zur Gebietsverwaltung. Die Opposition erfüllte damit eine Bedingung des gegen ihren Willen vor zwei Wochen beschlossenen Amnestiegesetzes der regierenden PRU. Es sah die Freilassung aller Verhafteten sowie eine Einstellung von rund 2000 Strafverfahren gegen die Protestierenden vor. In Lwiw waren viele der Ansicht, das Räumen der besetzten Gebäude sei der richtige Schritt, ein Blutvergießen zu verhindern. Auch herrschte die Hoffnung, die PRU werde sich so zu einen Kompromiss bei der von der Opposition geforderten Verfassungsreform bereiterklären.

Der Parlamentspräsident weigerte sich aber am Dienstagmorgen, die Diskussion über die Reform auf die Tagesordnung zu setzen. Die Abgeordneten der drei Oppositionsparteien Udar (Witali Klitschko), Batkiwtschina (Arseni Jatsenjuk) und Swoboda (Oleh Tjanibok) besetzten daraufhin die Rednertribüne. Die Opposition will zur alten Verfassung von 2004 zurückkehren, die die Rechte des Präsidenten beschneidet. Viktor Janukowitsch hatte diese nach seinem Wahlsieg Anfang 2010 durch ein auf seine diktatorisches Naturell zugeschnittenes Dokument ersetzten lassen.

Haben die Demonstranten scharf geschossen?

Das Innenministerium veröffentlichte Bilder, die beweisen sollen, dass Demonstranten mit scharfer Munition auf die Sicherheitskräfte geschossen hätten. Auffallend war jedoch laut ukrainischen Medien, wie schnell sich auf Seiten der Sicherheitskräfte Dutzende von Schlägertypen fanden – ganz so, als sei die Eskalation des Protestmarsches von langer Hand geplant worden. Regierungsgegner behaupten, dass sich Dutzende russische Geheimdienstmitglieder und Provokateure unter die Demonstranten gemischt hatten.

„Jetzt sind Frauen und Kinder in Gefahr!“, rief Oppositionsführer Klitschko am Abend von der Bühne des Maidan. Der Box-Weltmeister forderte sie auf, nach Hause zu gehen. Doch die Stadtverwaltung hatte den gesamten U-Bahnbetrieb eingestellt.

Binnen kurzer Zeit griffen die Auseinandersetzungen am Abend auf andere Teile des Landes über. Die Opposition besetzte erneut die Regionalverwaltungen von Lwiw und Ternopil. Selbst im Janukowitsch-treuen Odessa wurden Kasernen der Sondereinheiten blockiert, um diese an einer Verlegung nach Kiew zu hindern.

Im Ausland rief die Zuspitzung der Lage große Besorgnis hervor. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) rief die ukrainischen Behörden dazu auf, für ein Ende des blutigen Konflikts zu sorgen. „Es hat Gewalt und Gegengewalt gegeben im Laufe des Tages. Aber es obliegt den Sicherheitskräften, jetzt dafür zu sorgen, dass eine Deeskalation stattfindet und dass die Gewaltanwendung nicht noch ausgeweitet wird“, sagte Steinmeier nach Angaben seines Ministeriums.

Die USA forderten Janukowitsch zum Rückzug der Sicherheitskräfte und „höchster Zurückhaltung“ auf. In einem Telefonat mit Janukowitsch zeigte sich US-Vizepräsident Joe Biden am Dienstagabend tief besorgt über die Eskalation der Gewalt, wie das Weiße Haus mitteilte. Die ukrainische Regierung trage eine besondere Verantwortung dabei, die Situation zu entschärfen.