Die Gewerkschaften in Frankreich dehnen ihre Proteste gegen eine Bahnreform aus. Wegen der Zugausfälle sollen die Lehrer beide Augen zudrücken, wenn die Prüflinge zu spät sind.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Paris - Das meistgehörte Wort in Frankreich heißt derzeit „la galère“. Damit ist nicht etwa eine Rudergaleere gemeint, sondern die Mühsal für viele der 64 Millionen Einwohner. Schuld ist ein Eisenbahnstreik, den die Gewerkschaften vom Zaun gebrochen haben, um gegen eine Bahnreform der Regierung zu protestieren. Die Staatsbahn SNCF rechnete zuerst mit einem 24-stündigen Ausstand. Doch dann beschlossen die beiden radikalsten Organisationen der Eisenbahner die unbefristete Fortsetzung. Um Paris werden jetzt morgens mehr als 300 Kilometer Stau gemessen.

 

Studenlanges Warten im Gedränge

Betroffen ist der Fern- wie der Nahverkehr. Die Linien der Schnellzüge TGV funktionieren zur Hälfte, die Pariser S-Bahn RER zu einem Drittel. Auf vielen Bahnsteigen warten gedrängt stehende Pendler stundenlang auf einen Zug. Der nationale Verband der Klein- und Mittelunternehmen beziffert den gesamtwirtschaftlichen Schaden auf „mehrere Hundert Millionen Euro am Tag“: „Die Streikenden zögern nicht, Millionen von Erwerbstätigen als Geiseln zu nehmen und kleinere Unternehmen zu schwächen.“ Ernsthaft bedroht ist von heute an das Abitur, das sogenannte „baccalauréat“ oder kurz „bac“. 480 000 Absolventen des letzten Mittelschuljahres sind landesweit zur gleichen Zeit und für die gleichen Aufgaben und Themen eingeteilt.

Lockerungen für Zuspätkommer

Bisher galt die eiserne Regel: Nach dem Schellen um acht Uhr morgens gibt es in die Schulzimmer keinen Zutritt mehr, um Mogeleien zu verhindern. Nun erklärte Bildungsminister Benoît Hamon jedoch, wer bis zu eine Stunde zu spät komme, dürfe an den Prüfungen teilnehmen. Wer später eintreffe, könne nach Begründung mit der Streiklage ebenfalls damit rechnen, dass der Lehrer beide Augen zudrücke. Zudem will die Regierung 10 000 freiwillige Bahnangestellte aufbieten, um die Abiprüfungen zu gewährleisten.

Stein des Anstoßes ist die Bahnreform, die am Dienstag vors Parlament kommen soll. Ihr Kernpunkt ist die Verschmelzung der SNCF und des Schienennetzes RFF. Die Gewerkschaften befürchten, dass dies den Spardruck verstärken könnte. Die beiden Sparten waren 1997 auf Anordnung der EU getrennt worden. Der finanzielle Erfolg blieb indessen aus: Die Schulden von RFF sind seither von 20 auf 44 Milliarden Euro gewachsen.