Die Siebziger wurden eine Phase des tiefgreifenden Wandels, oft beschrieben als Übergang zum postindustriellen Zeitalter und als fundamentaler Wertewandel vor allem bei den Jüngeren. Es war die erste Generation nach dem Krieg, die in materieller Sicherheit aufgewachsen war und der nun postmaterialistische Werte wichtig wurden: Naturerhaltung, Frieden, Partizipation, Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit.

 

Die neuen sozialen Bewegungen bündelten alternative Formen der politischen Partizipation und des Protests. Es ging vor allem gegen die Machbarkeitsfantasien der Technokraten und gegen die überkommenen Formen der Politik und ihrer parlamentarischen Entscheidungsmechanismen. Die Gesellschaft war wortwörtlich in Bewegung. Das ist eines der zentralen Merkmale der westdeutschen Gesellschaft der siebziger Jahre.

Baden-Württemberg war eines der Zentren dieser neuen Protestkultur. Der Widerstand gegen das im südbadischen Wyhl geplante Kernkraftwerk war der erste große und vor allem erfolgreiche Versuch, gegen den neuen Mythos von der sauberen, billigen und allzeit verfügbaren Atomenergie anzugehen. Er hatte bundesweite Signalwirkung. Wyhl war stilbildend, denn es waren ja keine maskierten und steinewerfenden „Chaoten“, die sich den Plänen des Ministerpräsidenten Hans Filbinger entgegenstellten. Im Gegenteil: es war die Landbevölkerung, es waren Winzer und Bauern, die mit ihrem alemannischen „Nai hämmer gsait!“ im gewaltfreien Protest den Schulterschluss mit dem nahen Freiburger universitären Milieu suchten. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm. 1983 konnte schließlich Erfolg gemeldet werden: Der Abbruch des Bauvorhabens war erzwungen worden.

Geburtsort der Anti-Atomkraft-Bewegung

Wyhl wurde bundesweit zum Symbol für die Macht des außerparlamentarischen Protests, zum Geburtsort der Anti-AKW-Bewegung und nicht zuletzt zur entscheidenden Wegmarke auf dem Weg zur Gründung der Grünen. „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ war das Motto der Antiparteien-Partei, deren südwestdeutscher Landesverband sich bereits 1979 in Sindelfingen formierte, noch bevor 1980 in Karlsruhe ihr Bundesverband gegründet wurde. „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ – der grüne Gründungskonsens umriss den weiten Kreis der Bürgerinitiativenbewegung.

Strafprozesse gegen 3000 Festgenommene

Bis zum Abzug der Pershing-II-Raketen nach dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) von 1987 wurden die Friedensbewegten politisch bekämpft und juristisch verfolgt. Wie im Fließbandverfahren fanden im Amtsgericht Schwäbisch Gmünd rund 2000 Strafprozesse gegen etwa 3000 in Mutlangen Festgenommene statt. Die allermeisten wurden wegen Nötigung verurteilt. Der juristische Durchbruch für die Friedensbewegung kam erst im Januar 1995. Der Warschauer Pakt war längst implodiert, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass das friedliche Blockieren von Kaserneneinfahrten keine Gewalt darstellt. Etwa 10 000 Bundesbürger, die seit den frühen achtziger Jahren mit Sitzblockaden gegen Atomwaffendepots und andere militärische Einrichtungen demonstriert hatten und verurteilt worden waren, waren damit rehabilitiert.

Der Widerstand in Mutlangen hatte Vorläufer. Ohne den gesellschaftlichen und politischen Aufbruch der späten sechziger und siebziger Jahre ist er nicht zu denken. Es waren die Jahre „danach“. Die Euphorie von Achtundsechzig war verflogen, aber es lag noch etwas in der Luft. Der Studenten- und Jugendprotest zerfiel in neue Subkulturen: diverse marxistisch-leninistisch-maoistische K-Gruppen, Aussteiger- oder Landkommunen, Hausbesetzer- oder Spontiszenen. Diese linkskritischen Milieus fanden hier Protest- und Lebensformen jenseits der Gewalt, während wenige völlig Verblendete, die sich selbst als revolutionäre Avantgarde der Tat verstanden, Staat, Justiz und Gesellschaft mit dem RAF-Terror auf eine harte Probe stellten.

Reflex auf die Jahre „nach dem Boom“

Diejenigen, die nun demokratisch, friedlich und meist jenseits der etablierten Parteien Veränderungen forderten, gründeten Arbeitskreise und Bürgerinitiativen. Demokratiepolitisch ist es ja durchaus erwünscht, dass die Bürger Initiative ergreifen. Doch angesichts von geschätzten bis zu 50 000 Bürgerinitiativen allein im Zeitraum zwischen 1972 und 1978 sprachen manche schon von einem „partizipatorischen Flächenbrand“ und von der drohenden Unregierbarkeit der Republik.

Die neuen sozialen Bewegungen der siebziger Jahre, die Anti-Atomkraft-Bewegung, die Ökologiebewegung, die Friedensbewegung oder die neue Frauenbewegung, waren der Reflex auf den bis dato ungebremsten Fortschritts- und Wachstumsglauben im Zeichen der Hochkonjunktur. Nun aber kamen die Jahre „nach dem Boom“, die Zeit, in der die Welt an die „Grenzen des Wachstums“ stieß, wie der Club of Rome 1972 mit dem Titel seines Berichts nachdrücklich warnte. Schon ein Jahr später riss der Ölpreisschock die Bundesdeutschen aus ihrer kollektiven Selbstgewissheit. Das „Modell Deutschland“ kam auf den Prüfstand. Der Optimismus kippte um in Zukunftsangst.

Gegen überkommene Formen der Politik

Die Siebziger wurden eine Phase des tiefgreifenden Wandels, oft beschrieben als Übergang zum postindustriellen Zeitalter und als fundamentaler Wertewandel vor allem bei den Jüngeren. Es war die erste Generation nach dem Krieg, die in materieller Sicherheit aufgewachsen war und der nun postmaterialistische Werte wichtig wurden: Naturerhaltung, Frieden, Partizipation, Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit.

Die neuen sozialen Bewegungen bündelten alternative Formen der politischen Partizipation und des Protests. Es ging vor allem gegen die Machbarkeitsfantasien der Technokraten und gegen die überkommenen Formen der Politik und ihrer parlamentarischen Entscheidungsmechanismen. Die Gesellschaft war wortwörtlich in Bewegung. Das ist eines der zentralen Merkmale der westdeutschen Gesellschaft der siebziger Jahre.

Baden-Württemberg war eines der Zentren dieser neuen Protestkultur. Der Widerstand gegen das im südbadischen Wyhl geplante Kernkraftwerk war der erste große und vor allem erfolgreiche Versuch, gegen den neuen Mythos von der sauberen, billigen und allzeit verfügbaren Atomenergie anzugehen. Er hatte bundesweite Signalwirkung. Wyhl war stilbildend, denn es waren ja keine maskierten und steinewerfenden „Chaoten“, die sich den Plänen des Ministerpräsidenten Hans Filbinger entgegenstellten. Im Gegenteil: es war die Landbevölkerung, es waren Winzer und Bauern, die mit ihrem alemannischen „Nai hämmer gsait!“ im gewaltfreien Protest den Schulterschluss mit dem nahen Freiburger universitären Milieu suchten. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm. 1983 konnte schließlich Erfolg gemeldet werden: Der Abbruch des Bauvorhabens war erzwungen worden.

Geburtsort der Anti-Atomkraft-Bewegung

Wyhl wurde bundesweit zum Symbol für die Macht des außerparlamentarischen Protests, zum Geburtsort der Anti-AKW-Bewegung und nicht zuletzt zur entscheidenden Wegmarke auf dem Weg zur Gründung der Grünen. „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ war das Motto der Antiparteien-Partei, deren südwestdeutscher Landesverband sich bereits 1979 in Sindelfingen formierte, noch bevor 1980 in Karlsruhe ihr Bundesverband gegründet wurde. „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ – der grüne Gründungskonsens umriss den weiten Kreis der Bürgerinitiativenbewegung.

Parallel dazu beherrschte die Großkontroverse über den Nato-Doppelbeschluss die späten siebziger und die achtziger Jahre. Die Ökopax-Bewegung schwächte die SPD und führte die Grünen 1983 erstmals in den Bundestag. Sie ließ die Friedensbewegung zur größten Protestbewegung in der Geschichte der alten Bundesrepublik werden. Dabei verfügte die Friedensbewegung über eine erstaunliche Integrationskraft – über alle Generationen, Parteien, Klassen und Milieus hinweg. Das ist das eigentlich Bemerkenswerte, dass dieser Konflikt Linke und christlich motivierte Konservative, Liberale und Aussteiger, Alte und Junge, Männer und Frauen aller sozialen Schichten zusammenführte.

„Frieden schaffen ohne Waffen“

Das Mobilisierungspotenzial der Friedensbewegung zeigte sich auch am 22. Oktober 1983, als gegen 13 Uhr der Satz über die Ticker lief: „Die Kette steht.“ Wieder war es in Baden-Württemberg, wo rund 400 000 Friedensbewegte Hand in Hand die mehr als 100 Kilometer zwischen der Europäischen Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart-Vaihingen und dem Raketendepot in Neu-Ulm überbrückten – über weite Strecken hinweg zweireihig. Es war eine neue Protestform: die weltweit längste Menschenkette und eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik, generalstabsmäßig (der Begriff sei hier entschuldigt) geplant vom Karlsruher Ulli Thiel, dem Erfinder des Slogans „Frieden schaffen ohne Waffen“. In ihrem eigentlichen Ziel, die Stationierung der Atomwaffen zu verhindern, war die Friedensbewegung gescheitert. Helmut Kohl war gelungen, woran Helmut Schmidt gescheitert war: anregieren gegen breiten außerparlamentarischen Protest. Kohl, der (noch) am Projekt der geistig-moralischen Wende arbeitete, machte zwar offiziell die Blockierer in Mutlangen lächerlich: „Wenn die Leute partout auf der Straße sitzen wollen – dann lassen wir sie sitzen. Es wird aus anderen Anlässen Verkehr umgeleitet (. . .).“ Intern aber soll er sich von der Masse der Demonstranten im Herbst 1983 beeindruckt gezeigt haben. Nicht zuletzt hatten die Aktivisten die CDU geradezu gezwungen, mit dem Slogan „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ auch rhetorisch auf die Friedensbewegung zu reagieren.

Nato-Doppelbeschluss und die Folgen

Jenseits der Frage, ob nun die „Nachrüstung“ oder aber die Friedensbewegung zum Ende des Kalten Kriegs geführt hat, hat die Kontroverse über den Nato-Doppelbeschluss vor allem dazu beigetragen, dass wir heute tiefgreifende politische Gegensätze und die Protestformen, die sie begleiten, als wesentlichen Teil einer demokratischen Konfliktkultur verstehen – und auch aushalten. Der zivile Ungehorsam in Mutlangen hat die bundesdeutsche Rechtsprechung verändert und die Grundrechte der Bürger gestärkt. Wyhl, Mutlangen, die Menschenkette und die Friedensbewegung insgesamt haben gewaltfreie Formen des zivilgesellschaftlichen Protests als Mittel der politischen Auseinandersetzung etabliert und legitimiert. Wyhl war dabei der Vorreiter, denn hier wurde gezeigt, dass dieser außerparlamentarische Widerstand nicht nur organisierbar ist, sondern auch erfolgreich sein kann.

Die neuen sozialen Bewegungen der Siebziger und Achtziger haben den Gegensatz zwischen dem repräsentativen Politikmodell der Parlamentarier und Lobbyisten einerseits sowie des basisdemokratischen Modells der Bürgerinitiativen andererseits auf eine neue Ebene geführt. Die Nachrüstungsdebatte hat genauso wie die Konflikte um technologische Großprojekte wie Brokdorf, Wackersdorf oder die Frankfurter Startbahn West die Frage zugespitzt, ob alles, was technisch machbar und scheinbar legal ist, auch hinreichend legitimiert ist.

Sensiblerer Umgang mit Fragen politischer Legitimität

Darf ein Endlager gebaut werden, wenn der Standort nach einem vermeintlich guten Verfahren ausgewählt wurde, die Bürger vor Ort es aber ablehnen? Bei solchen Fragen stößt die repräsentative Demokratie an ihre Grenzen. Die Frage, ob parlamentarische Mehrheiten dazu „ermächtigt“ sind, über riskante Großprojekte und Technologien zu entscheiden, bleibt leidenschaftlich umstritten. Demokratie heißt Bereitschaft zu Konsens und Kompromiss. Transparenz und Verfahrenssicherheit kommen als zentrale Voraussetzungen für die Legitimität demokratischer Entscheidungen hinzu. Vor dem Hintergrund der Protestgeschichte der siebziger und achtziger Jahre hat sich eine neue Legitimitätsdebatte über Regieren und Demokratie entwickelt. Das bekommt heute auch die in die Jahre und an die Macht gekommene Generation der „Urgesteine“ dieser Protestkultur zu spüren.

Stuttgart 21 und Nationalpark als Entwicklungsschritte

Wir haben uns angewöhnt, mit politischen Legitimitätsfragen weitaus sensibler umzugehen als noch vor wenigen Jahren. Stuttgart 21 war dabei ein wichtiger Entwicklungsschritt, die Debatte über den Nationalpark im Nordschwarzwald ebenfalls, wenn auch auf anderem Erregungsniveau. Beide Beispiele zeigen, dass es für die Frage, wie die Bürger jenseits der klassischen Parlamentarismuskonzepte an Entscheidungen zu beteiligen sind, keine Patentlösungen gibt. Wohl aber gibt es einen gestärkten Bürgersinn, der Respekt verdient.

Demokratie ist ein schwieriges Geschäft. Lange schon haben sich die Deutschen aus ihrer obrigkeitsstaatlichen Tradition gelöst und gelernt, ihre Meinung auf vielfältige Art und Weise zu äußern. Die Protestformen, die heute praktiziert werden – Demos, Camps, symbolische Besetzungen oder Blockaden –, sind diejenigen, die damals etabliert wurden. Meilensteine auf diesem Weg zu einer neuen Partizipations- und Protestkultur wurden in Baden-Württemberg gelegt.

Der Autor und sein Buch

Reinhold Weber ist Zeithistoriker bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Er lehrt Zeitgeschichte an der Universität Tübingen. Am 21. September 2013 erscheint eine Protestgeschichte Baden-Württembergs aus seiner Feder. Sie beginnt mit der RAF als Zerfallsprodukt der Achtundsechziger und reicht von Wyhl und der Gründung der Grünen über den „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer und die neue Frauenbewegung bis hin zur Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm und zum zivilen Ungehorsam in Mutlangen. Dabei wird deutlich, dass das angeblich so beschauliche „Musterländle“ Impulse für ganz Deutschland setzte. Interviews mit Prominenten wie Marieluise Beck, Gründungsmitglied der Grünen, und Boris Palmer führen nah an die Geschehnisse heran. Das Buch stellt der Autor am 23. Oktober in der Stadtbibliothek Stuttgart im Werkstattgespräch mit Rezzo Schlauch vor (Beginn 19.30 Uhr).

Reinhold Weber (Hrsg.): Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er und 80er Jahre in Baden-Württemberg. Theiss Verlag, Stuttgart. 24,95 Euro.