Das Mobilisierungspotenzial der Friedensbewegung zeigte sich auch am 22. Oktober 1983, als gegen 13 Uhr der Satz über die Ticker lief: „Die Kette steht.“ Wieder war es in Baden-Württemberg, wo rund 400 000 Friedensbewegte Hand in Hand die mehr als 100 Kilometer zwischen der Europäischen Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart-Vaihingen und dem Raketendepot in Neu-Ulm überbrückten – über weite Strecken hinweg zweireihig. Es war eine neue Protestform: die weltweit längste Menschenkette und eine der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik, generalstabsmäßig (der Begriff sei hier entschuldigt) geplant vom Karlsruher Ulli Thiel, dem Erfinder des Slogans „Frieden schaffen ohne Waffen“. In ihrem eigentlichen Ziel, die Stationierung der Atomwaffen zu verhindern, war die Friedensbewegung gescheitert. Helmut Kohl war gelungen, woran Helmut Schmidt gescheitert war: anregieren gegen breiten außerparlamentarischen Protest. Kohl, der (noch) am Projekt der geistig-moralischen Wende arbeitete, machte zwar offiziell die Blockierer in Mutlangen lächerlich: „Wenn die Leute partout auf der Straße sitzen wollen – dann lassen wir sie sitzen. Es wird aus anderen Anlässen Verkehr umgeleitet (. . .).“ Intern aber soll er sich von der Masse der Demonstranten im Herbst 1983 beeindruckt gezeigt haben. Nicht zuletzt hatten die Aktivisten die CDU geradezu gezwungen, mit dem Slogan „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ auch rhetorisch auf die Friedensbewegung zu reagieren.

 

Nato-Doppelbeschluss und die Folgen

Jenseits der Frage, ob nun die „Nachrüstung“ oder aber die Friedensbewegung zum Ende des Kalten Kriegs geführt hat, hat die Kontroverse über den Nato-Doppelbeschluss vor allem dazu beigetragen, dass wir heute tiefgreifende politische Gegensätze und die Protestformen, die sie begleiten, als wesentlichen Teil einer demokratischen Konfliktkultur verstehen – und auch aushalten. Der zivile Ungehorsam in Mutlangen hat die bundesdeutsche Rechtsprechung verändert und die Grundrechte der Bürger gestärkt. Wyhl, Mutlangen, die Menschenkette und die Friedensbewegung insgesamt haben gewaltfreie Formen des zivilgesellschaftlichen Protests als Mittel der politischen Auseinandersetzung etabliert und legitimiert. Wyhl war dabei der Vorreiter, denn hier wurde gezeigt, dass dieser außerparlamentarische Widerstand nicht nur organisierbar ist, sondern auch erfolgreich sein kann.

Die neuen sozialen Bewegungen der Siebziger und Achtziger haben den Gegensatz zwischen dem repräsentativen Politikmodell der Parlamentarier und Lobbyisten einerseits sowie des basisdemokratischen Modells der Bürgerinitiativen andererseits auf eine neue Ebene geführt. Die Nachrüstungsdebatte hat genauso wie die Konflikte um technologische Großprojekte wie Brokdorf, Wackersdorf oder die Frankfurter Startbahn West die Frage zugespitzt, ob alles, was technisch machbar und scheinbar legal ist, auch hinreichend legitimiert ist.