Wenn Hochkultur auf Subkultur trifft, kann eine einzigartige Protestkultur entstehen. Das ist jetzt auch in Stuttgart so: Die Gegner des umstrittenen Bauprojekts S 21 beleben mit ihrem originellen Widerstand die Bürgergesellschaft.

Stuttgart - Es war am Tag danach. Der größte Protestzug, den die Stadt seit Jahrzehnten erlebt hat, wälzte sich durch die Straßen. Mittendrin sah man auch wieder jene bunte Combo, die mit Pauken und Trompeten, Klarinetten und Saxofonen den Demonstranten solidarisch den Marsch bläst. Seit Wochen und Monaten macht sie das, unermüdlich musiziert diese wild zusammengewürfelte Marching Band gegen Stuttgart 21 an, mit Beat und Blues, Pop, Polka und Tango - aber was sie am vergangenen Freitag, dem Tag nach den gewalttätigen Zusammenstößen im Schlossgarten, erleben durfte, war auch für die protestierenden Blech- und Holzbläser neu.

Irgendwann kam die Combo, von Menschenmassen begleitet, auf ihrem Zug durch die Stadt an der Oper vorbei, musizierend, versteht sich. Und urplötzlich, die Sinne jäh belebend, stieg an diesem Ort ein Bild in die Nacht, das ein Zauberer wie Fellini nicht surrealer hätte entwerfen können: Im Obergeschoss des Opernhauses drängten Frauen mit turmhohen Frisuren und Männer mit steifschwarzen Zylindern in die Fensterrahmen, weiß geschminkte Wesen aus einer anderen Welt, die nun aber - im Hier und Heute - der Blaskapelle und den anderen munteren Demonstranten zuwinkten und zujubelten. Die Vorstellung der auf Schillers "Kabale und Liebe" basierenden "Luisa Miller" von Verdi hatte gerade Pause. Und diese Pause im bürgerlichen Freiheitsdrama nutzten die noch festlich kostümierten Sänger und Sängerinnen, um vom Barock in die Moderne zu springen und voller Enthusiasmus das Jeans, Parka und Wanderschuhe tragende Volk zu grüßen. Ein symbolischer Akt?

Menschen aus allen sozialen Milieus


Ja. Die Fellini-Szene führt exemplarisch vor Augen und Ohren, weshalb die Protestbewegung gegen das umstrittene Bauprojekt Stuttgart 21 so ungeheuer viele Menschen erreicht. Es sind Menschen aus allen sozialen Milieus, Frauen und Männer jeglichen Rang und Alters, die seit Wochen und Monaten friedlich auf die Straßen gehen. Die Stadt ist im Begriff, sich in diesem gemeinsamen Aufbegehren neu zu erfahren, sich anders kennenzulernen und ein frisches Bild von sich zu entwerfen, jenseits traditioneller gesellschaftlicher Schranken zwischen Killesberg und Heslach, Gänsheide und Untertürkheim. Und so, wie sich hügelauf- und hügelabwärts die gesellschaftlichen Sphären vermischen, so vermischen sich eben auch die kulturellen. Um auf Fellinis traumhaftes Fensterbild im Gegenlicht zurückzukommen: die Hochkultur vermählt sich mit der Subkultur, spontaner, fröhlicher und zwangloser als je zuvor in dieser Stadt - und das Kind, das in dieser Ehe gezeugt wird, ist eine Kultur des Protestes, die in dieser Breite und Vielfalt, auch auf diesem Niveau von Bildung und Informiertheit in der Geschichte der Bundesrepublik wohl einmalig ist.

Eine kühne Behauptung. Aber wer in den vergangenen Monaten die Montags- und Freitagsdemos, die Kulturmittwoche und Parkfeste beobachtet hat, kam genauso ins Staunen wie mittlerweile auch der Rest der Republik. In Stuttgart ist der Hunger nach kreativer, mit Witz dargebotener Aufklärung noch nie so groß gewesen wie in diesen bewegten Tagen.

Zuhörer zu Architekturhistorikern machen


Es war an einem Montag im August, als der Nordflügel des Hauptbahnhofs noch nicht gänzlich abgerissen war. Kurz vor Mitternacht griff ebendort irgendwer zum Megafon und las einen Text vor. Kein demagogisches Pamphlet, sondern einen seriösen Zeitschriftenartikel, in dem die geologischen Risiken von S21 erläutert wurden - und fünfzehn Minuten lang herrschte eine aufmerksame Stille auf dem Platz, auf dem noch immer Hunderte von Menschen ausharrten.