Mit dem Ausnahmezustand habe Erdogan die Freiheiten der Türken stark eingeschränkt, sagt Kilicdaroglu: „Wir wollen das Hemd der Angst, das dem Volk angezogen wurde, zerreißen.“ Der Marsch sei erstmals seit dem Putschversuch eine Gelegenheit, diese Furcht zu überwinden. Inzwischen hat der Protestmarsch Ausmaße erreicht, die die Versorgung der Massen zum Problem machen. Vieles ist gut organisiert, mit regelmäßigen Wasserstationen und Mülleimern am Wegrand, doch stößt die Logistik inzwischen an ihre Grenzen. In den Pausen reichen die Zelte längst nicht aus, um allen Schatten zu bieten. So drängen sich die Leute unter den nahen Bäumen, suchen in den Maisfeldern Kühlung oder flüchten sich gar unter die Tische.

 

Die Regierung spottet und schimpft, aber sie greift nicht ein

Jeden Tag werden Essen, Wasser und die weitere Logistik von einer CHP-regierten Gemeinde gestellt. An einem Tag ist der Istanbuler Bezirk Kadiköy verantwortlich, am anderen Nilüfer in Bursa oder Cankaya in Ankara. Abgesichert wird der Marsch von mehreren Hundertschaften Polizisten, die in ihren schwarzen Uniformen noch mehr schwitzen als die Demonstranten, die ihnen mit einer Mischung aus Mitleid und Misstrauen begegnen.

Die Regierung spottet, schimpft und droht, doch noch ist sie nicht eingeschritten. Dass Erdogan Kilicdaroglu vorwirft, mit dem Marsch „Terroristen“ zu unterstützen und die Rechte der Opposition zu überschreiten, nimmt der CHP-Chef ungerührt zur Kenntnis: „Diese Worte sind eines Diktators angemessen.“ Erdogan versuche, den Marsch zu kriminalisieren, doch sei es ein verfassungsmäßiges Recht zu demonstrieren.

Persönliche Geschichten von Verfolgung und Inhaftierung

Viele der Marschierenden kommen nur für einen Morgen, andere wie Mustafa Kemal Gültekin sind seit Anbeginn dabei. Der Mann mit dem weißen Schnauzer, Dreitagebart und Halbglatze unter dem Strohhut gehört zum äußeren linken Flügel der CHP und ist seit 40 Jahren in der Politik aktiv. Er wurde schon mehrfach inhaftiert und betrachtet den Marsch als Teil eines langen Kampfes für Demokratie, Säkularismus und Freiheit. Er ist überzeugt, dass der Marsch ein Wendepunkt sein wird für die Opposition. Für Gültekin wie für andere linke Aktivisten, Gewerkschafter, Journalisten und Anwälte, die sich dem Marsch angeschlossen haben, ist „adalet“ kein abstrakter Begriff. Viele können persönliche Geschichten zum Thema Gerechtigkeit erzählen – Geschichten von Entlassung, Inhaftierung und Verfolgung.