Ein Mann, der in Böblingen scheinbar grundlos mit einem Messer zwei Polizisten schwer verletzt hat, steht vor Gericht. Im Kampf trafen die Beamten nicht nur den Angreifer.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Der Angreifer war selbst in Lebensgefahr. Chirurgen mussten ihn mit einer Notoperation retten. Schüsse aus zwei Dienstwaffen hatten ihn schwer verletzt, allerdings nicht nur ihn. Die Situation, in der eine 28-jährige Polizistin und ein 21 Jahre alter Polizist gefeuert hatten, können sich wohl nur die direkt Beteiligten vorstellen, aber mindestens die beiden Polizisten würden die Nacht des 4. Juli 2019 gewiss gern aus ihrem Gedächtnis tilgen.

 

Das Denken des Mannes, der nun angeklagt ist, sie seinerzeit mit einem Messer schwer verletzt zu haben, soll ein psychiatrischer Gutachter erhellen. Schon am Tag danach war die Polizei von einer Tat in einem „massiven psychischen Ausnahmezustand“ ausgegangen. Seit Donnerstag verhandelt das Landgericht Stuttgart unter dem Vorsitzenden Richter Norbert Winkelmann wegen versuchten Totschlags gegen den 24-Jährigen.

Offenbar leidet der Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie

Der Angeklagte leidet an einer paranoiden Schizophrenie – so ist es jedenfalls in der Anklageschrift niedergeschrieben, die der Staatsanwalt Peter Kraft verlesen hat. Er hält den 24-Jährigen für nicht schuldfähig, aber gemeingefährlich. Im Fall eines Schuldspruchs wird das Gericht entscheiden müssen, ob der Angeklagte ins Gefängnis oder in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden muss.

An jenem Abend war die Polizei wegen Ruhestörung an der Bunsenstraße gerufen worden, scheinbar zu einem Routineeinsatz. Die Gäste einer Gartenparty nebenan dachten, dass sie verwarnt werden sollten, als sie den Streifenwagen vorbeifahren sahen. Es war kurz vor Mitternacht, als sie glaubten, einer ihrer Nachbarn habe mitten im Sommer ein Feuerwerk gezündet. Was sie hörten, waren zwölf Schüsse.

Eine Polizistin traf der erste Messerstich, als sie das Haus betrat

Der 24-Jährige hatte getobt und gebrüllt. Seine Mutter und seine Schwester hatten vergeblich versucht, ihn zu beruhigen. Die 28-jährige Polizistin hatte kaum den Hausflur betreten, als sie der erste Messerstich verletzte. Der Angreifer attackierte mit der Klinge offenbar gezielt den Kopf und den Hals. Ein Stich durchtrennte der Frau die Wange, einer drang bis knapp neben der Wirbelsäule in ihren Hals ein. Mindestens dieser Stich hätte nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft die Polizistin töten können.

Die 28-Jährige schoss neun Mal, aber der Angreifer war nicht zu stoppen. Mit einem Schuss zertrümmerte sie sich ihre eigene Kniescheibe. Auf ihren jungen Kollegen hatte der 24-Jährige ebenfalls eingestochen, aber mit vergleichsweise harmlosen Folgen. Die Klinge verletzte ihn an der Hand und durchtrennte eine Sehne seines Daumens. Danach stand der Polizist weitgehend hilflos draußen. Im Kampf war die Haustür zugefallen. Der 21-Jährige sah die Attacken gegen seine Kollegin nur noch durch das Drahtglas der Türfüllung. Er zielte auf die Beine des Angreifers, feuerte drei Mal durch die Tür, traf dabei aber auch seine Kollegin ins Bein. Eine Notärztin versorgte die Schwerverletzten. Die Polizistin musste ebenfalls sofort operiert werden.

Der Angeklagte hat eine Aussage angekündigt

Der Prozess stößt auf außergewöhnliches Interesse. Nicht zuletzt Kollegen der Verletzten füllten am ersten Verhandlungstag die Zuhörerreihen des Saals 16 im Landgericht. Zum Prozessauftakt ist ausschließlich die Anklageschrift verlesen worden. Der 24-Jährige hatte zwar angekündigt, dass er seine Sicht auf das Geschehen erklären wolle. Die Aussage ist allerdings aus banalem Anlass verschoben. Jerome Bauer, einer der beiden Verteidiger, wollte seinen Mandanten am Tag vor dem Prozessbeginn zu einer Schlussbesprechung treffen. Der Termin scheiterte, weil sein Auto nicht ansprang. Der Angeklagte soll nun beim zweiten Prozesstag am 19. Februar aussagen. Das Urteil ist für den 1. April geplant.

Im Verlauf der Verhandlung wollen sich auch die Mutter und die Schwester des Angeklagten in den Zeugenstand rufen lassen. Sie hätten die Aussage wegen ihrer Blutsverwandtschaft verweigern können. Die Mutter ist selbst in psychiatrischer Behandlung. Ihr Sohn hält sich offenbar für geistig gesund. „Er hat sich einer Therapie entzogen“, hatte Bauer in einem Vorgespräch mit dem Gericht gesagt. Sein Mandant müsse erst noch „realisieren, was er getan hat“.