Vor dem Stuttgarter Landgericht steht ein 39 Jahre alter Mann, der sagt, er verstehe seine Taten nicht. Der Angeklagte lebt bei seiner Mutter.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Sindelfingen - Der Angeklagte ist ein pummeliger Mann, dessen Oberkörper in einem fliederfarbenen Pullunder steckt. Den weißen Hemdkragen zupft er immer wieder zurecht, als säße dieser nicht ebenso unverrückbar wie seine Kurzhaarfrisur. Dieses Erscheinungsbild als bieder zu umschreiben, tut dem 39-Jährigen gewiss kein Unrecht. Was er auszusagen hat über seine „Schande, Peinlichkeit, Entgleisung, den Vorfall“ – dies sind Varianten seiner Wortwahl –, ist, freundlich umschrieben, ein wenig ausschweifend. Er hat immer etwas zu ergänzen, zu erklären, anzumerken.

 

Der Angeklagte hat in seiner Wohnung in Sindelfingen einen Zwölfjährigen unsittlich angefasst. Wie oft, ist strittig. Das Opfer glaubt an bis zu 20, die Staatsanwaltschaft an mindestens zwölf Mal. So lautet die Anklage, und so hat es der Angeklagte auch gestanden. Mit einem anderen Jungen hatte er per Videotelefonie Kontakt. Auf dem Rechner des 39-Jährigen fanden die Ermittler Nacktbilder von dem Jungen.

Der Angeklagte beteuert, er habe sich nie zu Jungen hingezogen gefühlt

Seine Taten seien ihm „aus heutiger Sicht völlig unverständlich“, sagt er. Er habe sich nie zu Jungen hingezogen gefühlt. Zu Frauen allerdings auch nicht sonderlich. Weibliche Begleitung sei ihm nie „ein brennendes Bedürfnis“ gewesen, sagt er. Es habe einmal ein Mädchen gegeben, eine Urlaubsbekanntschaft in Österreich vor elf Jahren, wie die Richterin Sina Rieberg erfragt. Danach seien noch einige Besuche gefolgt, aber „es hat sich keine längere Beziehung ergeben“, sagt der Angeklagte aus.

Präzise formuliert, war der Tatort nicht seine Wohnung, es war das Haus seiner Mutter. Dort lebt der 39-Jährige in zwei Zimmern, zusammen sind sie 24 Quadratmeter groß. Er hat sein Abitur bestanden, leistete elf Monate Zivildienst ab, studierte mit Erfolg und einem passablen Abschluss. Hie und da jobbte er, immer wieder auch als Nachhilfelehrer. So kam er in Kontakt mit seinem späteren Hauptopfer. Vollbeschäftigt gearbeitet hat er nie. Von den Nebenverdiensten abgesehen, lebte er vom Geld der Eltern. Heute lebt er von der Rente seiner Mutter. Der Vater ist gestorben.

„Wegen meiner Familie habe ich meine eigenen Pläne auf Eis gelegt“, sagt der 39-Jährige. Dolmetscher sei ein Berufswunsch gewesen, Übersetzer oder Lektor. Im Jahr 2015 habe er entschieden, endgültig mit der Arbeitssuche zu beginnen. Inzwischen „ist 2017 auch schon abgelaufen“, sagt Rieberg, „Ihre Chancen werden nicht besser“. Beworben hat er sich bisher nicht, aber „jetzt muss ich beruflich tätig werden“, sagt der 39-Jährige. Sofern das Gericht ihn nicht in Haft schickt. Bisher ist der Angeklagte frei.

Der Angeklagte hält den Tod seines Vaters für eine Teil des Motivs

Sein Vater war Unternehmer. Die Mutter hat ebenfalls gearbeitet, bis ein Rückenleiden sie zum Aufgeben zwang. Nach und nach, so erzählt es der Angeklagte, seien ihm immer mehr Aufgaben im Haus zugefallen. Er kaufte ein, putzte Fenster, half in der Firma. Sein Vater erkrankte schwer und letztlich tödlich. Der Tod „hat mich in ein tiefes Loch gerissen“, sagt der 39-Jährige. Diese Ausnahmesituation hält er zumindest für einen Teil seines Motivs. Außerdem „habe ich mich in eine Vaterrolle hineindrängen lassen“, sagt er. Immer häufiger und immer länger habe der Junge ihn sehen wollen, nicht nur zur Nachhilfe. Ganze Tage verbrachten sie zusammen, gingen ins Kino, in die Wilhelma, auf ein Straßenfest. Nicht er habe sich zu dem Kind hingezogen gefühlt, sondern das Kind zu ihm. „Gespräche über Sex mit einem pubertierenden Zwölfjährigen“ hätten schließlich zu Intimitäten geführt. So ist es im schriftlichen Geständnis niedergeschrieben.

Die Mutter des Angeklagten hat an den Anwalt der Opferfamilie 7500 Euro bezahlt als sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich, landläufig Schmerzensgeld. Allerdings hat sie das Geld so kurz vor dem Prozessbeginn überwiesen, dass zum Verfahrensauftakt unklar war, ob es angekommen ist. Der Angeklagte versichert, er wolle eine Therapie beginnen. Im November habe er sich auf eine Warteliste setzen lassen, im Dezember mit einer Psychologin telefoniert. Termine sind noch keine vereinbart, wie die Richterin auf Nachfrage erfährt. Die letzte der Taten ist etwas länger als zwei Jahre her.