Sie sind jung und sehen in der Hinwendung zum Islamischen Staat die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Hat eine 32-jährige Deutsche von Raqqa aus über das Internet Nachwuchs für die Terrororganisation rekrutiert? Der Prozess vor dem OLG Stuttgart gegen Sabine Sch. beginnt am Freitag.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Der militärische Kampf gegen die Truppen des Islamischen Staats ist offiziell vorbei. Der Krieg in Syrien ist in den deutschen Gerichtssälen angekommen. Sabine Sch. ist die erste Frau, die sich in Baden-Württemberg wegen der Mitgliedschaft im Islamischen Staat vor Gericht verantworten muss. Die Anklage der Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass die Frau, die heute 32 Jahre alt ist, viereinhalb Jahre lang als IS-Kämpferin in Syrien gelebt hat. Im Dezember 2013 soll die Frau aus dem Badischen ausgereist, im April 2018 nach Deutschland zurückgekehrt sein. Am 26. Juli 2018 wurde sie festgenommen. Seitdem, so teilt das Stuttgarter Oberlandesgericht mit, befindet sich die Mutter mehrerer Kinder in Untersuchungshaft. Mit ihrem ersten Antrag auf einen Haftbefehl war die Bundesanwaltschaft beim Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof gescheitert. Erst auf eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin hatte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs den Haftbefehl erlassen. Der Prozess gegen Sabine Sch. beginnt am 3. Mai. In dem Staatsschutzverfahren geht es unter anderem um den Vorwurf der Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung Islamischer Staat, zwei Kriegsverbrechen gegen Eigentum und sonstige Rechte sowie Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz.

 

200 deutsche Frauen sind nach Syrien gereist

Sabine Sch. ist eine von mehr als etwa 200 IS-Kämpferinnen, die zum Stand 18. Dezember 2018 von Deutschland nach Syrien gereist sind, teilt das Bundeskriminalamt (BKA) auf Anfrage mit. Insgesamt zählt das BKA mehr als 1050 ausgereiste Personen für diesen Zeitraum. Mehr als die Hälfte hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Behörde in Wiesbaden geht davon aus, dass etwa 200 der IS-Anhänger bei Kampfhandlungen in Syrien und im Irak ums Leben gekommen sind. Etwa 300 der Ausgereisten leben inzwischen laut BKA wieder in Deutschland. Für 110 Anhänger des IS liegen dem BKA nach eigenen Angaben Erkenntnisse vor, dass sie aktiv an Kämpfen beteiligt waren oder eine Ausbildung absolviert haben. Großes Medienaufsehen hat im vergangenen Monat die Anklage gegen eine 27-jährige mutmaßliche IS-Anhängerin aus Nordrhein-Westfalen erregt. Vor dem Münchner Oberlandesgericht geht es derzeit um den schwerwiegenden Vorwurf, die Frau habe mit ihrem Mann zusammen eine Jesidin mit ihrer fünfjährigen Tochter als Haussklavin gehalten. Die Angeklagte habe das Mädchen in der sengenden Hitze vor den Augen ihrer Mutter verdursten lassen.

Auch Sabine Sch. soll wie die Münchner Angeklagte in den Häusern von Menschen gelebt haben, die vor den Kämpfern des IS geflüchtet sind. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Syrien soll sie einen ihr bis dahin unbekannten höherrangigen IS-Kämpfer geheiratet haben, mit ihm zusammengelebt und zwei Kinder geboren haben. Im Sommer 2014 bezog das Paar eine möblierte Wohnung in der Stadtmitte Rakkas. Die Bewohner waren vor dem IS geflohen. Sabine Sch. soll als IS-Frau erkennbar an öffentlichen Hinrichtungen teilgenommen haben.

Hat Sabine Sch. Hinrichtungen gerechtfertigt?

Außerdem soll Sabine Sch. von der IS-Hochburg Rakka aus mehrere vom IS überwachte Internetseiten unterhalten haben. Auf ihnen soll sie für das Leben im Herrschaftsbereich des IS und für eine Ausreise aus Deutschland geworben haben. Auf den Blogs soll sie Hinrichtungen und Gewalt als Mittel der Herrschaft gerechtfertigt haben. Sollte sich der Vorwurf in dem bisher auf elf Verhandlungstage terminierten Prozess erhärten lassen, war Sabine Sch. damit an der Rekrutierung von IS-Nachwuchs beteiligt und hat zur Radikalisierung potenzieller Anhänger über die sozialen Medien beigetragen. Mathieu Coquelin gehört zu denen, die versuchen, diese Lockangebote zu identifizieren und im Idealfall zu entzaubern. Er ist Leiter der Fachstelle für Extremismusdistanzierung am Demokratiezentrum Baden-Württemberg. In Fachveranstaltungen für Jugendleiter oder Lehrer geht es ihm darum, für die schleichende religiöse oder auch politische Radikalisierung von Jugendlichen zu sensibilisieren. Für ihn und seine Mitstreiter aus der Prävention ist die militärische Niederlage des Islamischen Staats kein Grund, die Präventionsarbeit runterzufahren. Zumal sich dessen Anführer al-Baghdadi Anfang der Woche in einem Video zurückgemeldet hat und weitere Vergeltungstaten ankündigt. „Das Ende der territorialen Hoheit ist kein Anlass, sich um das Phänomen Islamischer Staat nicht mehr zu kümmern“, betont Coquelin. Die Faktoren, die den Zulauf begünstigt haben, seien weiter da: „Dadurch, dass nach wie vor keine Stabilität im Nahen Osten herrscht, lässt sich eines der zentralen Erzählmuster, nämlich der Krieg des Westens gegen die Muslime, mit dem die Szene arbeitet, weiter am Leben halten.“

Präventionsexperte sieht weiter Beratungsbedarf

Zur Prävention gehört für Coquelin detailliertes Wissen über den Islam. Denn einer der größten Erfolge der salafistischen Szene sei es, Jugendliche anzusprechen, die zuvor keinerlei religiöse Sozialisation erfahren und keine religiöse Vorbildung haben. Coquelin ist nach Jahren praktischer Arbeit überzeugt, dass Religion nur das Mittel sei, die eigene erlebte Unzufriedenheit, die fehlende gesellschaftliche Anerkennung und fehlende Perspektiven zu kompensieren. Es werde Jungen und Mädchen eine Identität und eine Gesellschaft angeboten, in der sie bedingungslos akzeptiert würden.

Zwar sei es ein Signal, wenn Jugendliche plötzlich religiöse Kleidung tragen. Alarmierender sei es jedoch, wenn sie anderen theologisch begründet vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. In der konkreten Arbeit gehe es dann jedoch darum, sich die Lebenssituation des Jugendlichen anzuschauen. Für junge Männer sei das Rollenangebot des starken Mannes in Phasen der Verunsicherung extrem attraktiv, für junge Frauen sei das Bild von der nicht emanzipierten Frau ein attraktives und entlastendes Rollenbild.