Im Osmanen-Prozess in Stuttgart wird ein versuchter Mord mit Folter in Herrenberg verhandelt. Opfer war ein ehemaliger Präsident der Osmanen in Hessen – Teil eines brutalen internen Machtkampfes.

Herrenberg - Der Zeuge sitzt mit eingesunkenen Schultern im Gerichtssaal. Seine Stimme ist leise. Dass er heute hier sitzt, muss ihn unendlich viel Mut gekostet haben. Er berichtet von einem monatelangen Versteckspiel, Drohungen und Einschüchterungen. Doch Cemal S. (Name geändert) will aussagen. Er war Präsident eines Ortsclubs der Osmanen, bis er am 2. Februar 2017 in einer Wohnung in Herrenberg (Kreis Böblingen) überlistet, angeschossen, gefoltert und mit dem Tod bedroht worden sein soll – zwei Tage lang. „Ich dachte: Jetzt ist es vorbei. Ich sehe meine Familie nie wieder“, sagt er.

 

Es ist der weitreichendste Anklagepunkt gegen acht Mitglieder der nationaltürkischen Vereinigung Osmanen Germania BC, der sich Boxclub nennt, aber am achten Prozesstag in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart-Stammheim eher wie eine mafiaähnliche kriminelle Vereinigung beschrieben wird. Es geht um versuchten Mord, laut Anklageschrift angeordnet vom Vizepräsidenten der Osmanen, Selcuk Sahin.

Die Emotionen schlagen hoch. „Sag doch die Wahrheit, du Hund“, ruft einer der gut 50 Osmanen-Anhänger im Zuschauerraum. Sie sind in großer Zahl erschienen und erheben sich, als der „Weltpräsident“ Mehmet Bagci in Handschellen in den Mehrzwecksaal der JVA zu der Anklagebank geführt wird.

Brutal wie in einem Mafiafilm

Das Martyrium des 36-Jährigen könnte das Szenario eines Mafia-Thrillers darstellen. Wie er berichtet, soll ihm in der Zweitwohnung des Stuttgarter Osmamen-Präsidenten Levent Uzundal in Herrenberg (Kreis Böblingen) Schlafmittel ins Getränk gemischt worden sein. „Ich bin gegen 3.20 Uhr auf dem Sofa aufgewacht, weil ich starke Schmerzen am Kinn hatte“, berichtet er. Die rührten von einer Rohrzange her, die der jüngste der acht Angeklagten ihm ins Gesicht geschlagen haben soll. Fünf maskierte Männer hätten ihn bedroht.

Bei weiteren Schlägen mit der Rohrzange, so erzählt er, seien ihm zwei Zähne ausgefallen. „Dann wurde ich mit einer Pistole bedroht und ins Bein geschossen“, berichtet Cemal S. weiter. Er habe das Bewusstsein verloren, sei später wieder blutend aufgewacht. Der Stuttgarter Vizepräsident Mustafa Kilinc habe gedroht, ihm das Ohr abzuschneiden. Über zwei Tage hinweg habe er so schwer verletzt auf dem Sofa gelegen. „Sie haben gesagt: Am Ende bringen wir dich sowieso um, du siehst deine Familie nie wieder“, berichtet er. Mit einer Pinzette habe man versucht, die Kugel aus seinem Bein zu entfernen – ohne Betäubung. Am Ende habe er Geld zahlen sollen. Nur knapp habe er überlebt und fliehen können.

Operation mit Pinzette ohne Betäubung

Der 36-Jährige ist kein Mitläufer bei den Osmanen gewesen – sondern der Präsident eines der Chapter, wie sich die Ortsclubs nennen. Schon kurz nach seinem Eintritt 2016, so berichtet er, sei er nach Frankfurt zum „Weltpräsidenten“ Mehmet Bagci gefahren, um sich die Genehmigung für ein eigenes Chapter in Marburg-Gießen erteilen zu lassen. Die habe er erhalten. Er habe ein Clubhaus mit Sportstudio gegründet und einen Trainer angestellt, erzählt Cemal S. vor Gericht. „Ich war Mitglied der Präsidenten-Whats-App-Gruppe der Osmanen“, sagt er. Er gehörte somit dem exklusiven Zirkel an, der direkten Zugang zu Mehmet Bagci hatte.

Osmanen-Präsidenten haben eigene Whats-App-Gruppe

Als Elektriker war er ein gefragte Mann. Mal sollte er in einem neuen Bordell in Sankt Margarethen in der Schweiz Leitungen installieren, mal in einem Club bei Nagold. Doch schon bald, so berichtet er, habe es Stress mit anderen örtlichen Präsidenten gegeben. Er mache nicht mit bei Aktionen gegen den Hauptgegner der Osmanen auf der Straße, die Kurden.

Vor allem mit dem Stuttgarter Präsidenten Levent Uzundal (35) geriet er offenbar aneinander. Dieser soll ihm vorgeworfen haben, sich an seine Freundin herangemacht zu haben. Diese sagte vor der Polizei aus, es habe deswegen im Vorfeld der Tat einen heftigen Streit zwischen Uzundal und Cemal S. in ihrer Wohnung in Gäufelden-Nebringen (Kreis Böblingen) gegeben.

Die Eskalation erfolgte dann nach einer gemeinsamen Türkeireise Ende Januar des vergangenen Jahres. Cemal S. hatten sich offenbar mit dem Falschen angelegt, denn Uzundal war nicht nur Stuttgarter Osmamenchef, sondern auch Waffenmeister der Weltclubs und damit direkt Bagci und Sahin unterstellt. Plötzlich sei ihm vorgeworfen worden, nicht nur Uzundals Freundin angemacht zu haben – sondern auch die von Mehmet Bagci und Selcuk Sahin.

Soll Osmamen-Vize Selcuk Sahin entlastet werden?

Als Cemal S. am Stuttgarter Flughafen ankam, sei er von Uzundal in dessen Zweitwohnung in Herrenberg eingeladen worden – in der dann die Folter stattgefunden haben soll. Der Zeuge schildert die kleine Wohnung als karg und einfach eingerichtet: „Sie war für die Frauen von Uzundal zum Wohnen und Arbeiten gedacht.“ Uzundal soll im Rotlichtmilieu aktiv gewesen sein.

Wer hatte bei der Aktion das Kommando? Bei der Polizei hatte Cemal S. noch den Vizepräsidenten Selcuk Sahin beschuldigt – vor Gericht wies er alle Schuld Levent Uzundal zu, Sahin habe nichts damit zu tun. Dies habe ihm auch der abgetauchte Stuttgarter Ex-Vizepräsident Mustafa Kilinc klar gemacht. Der Verdacht liegt nahe, dass der Zeuge beeinflusst werden soll, um die obersten Osmanen-Chefs zu entlasten. Der Richter äußerte auch einige Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Cemal S.

Boxclub
Die Bande Osmanen Germania wurde 2015 von dem Ex-Boxer Mehmet Bagci und dem früheren Hells-Angels-Mitglied Selcuk Sahin in Frankfurt gegründet. Sie soll bundesweit 400 Mitglieder haben, in Baden-Württemberg etwa 150. Sie ist türkisch-nationalistisch geprägt.

Kontakt nach Ankara
Es gibt viele Hinweise, dass die Osmanen über den türkischen Kulturverein UETD Verbindungen zur Erdogan halten. So sichern die Osmanen Wahlveranstaltungen der Regierungspartei AKP in Deutschland ab und erhalten im Gegenzug Unterstützung.

Prozess
In dem Mammutverfahren, das bis Januar dauert, werden Bagci, Sahin, dem Stuttgarter Präsidenten Uzundal und fünf weiteren Osmanen mehr als 20 Taten vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft hat bundesweit Fälle gesammelt, um die obersten Chefs anzuklagen.