Zu spät, sagen Daimler-Aktionäre, habe der Konzern 2005 über den Abgang Jürgen Schrempps informiert. Zweimal sind sie als Kläger in Stuttgart unterlegen, im dritten Anlauf könnten sie nun doch noch Schadenersatz erstreiten.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Mehr als zehn Jahre nach dem Abgang von Jürgen Schrempp als Daimler-Chrysler-Chef können Aktionäre, die sich damals zu spät informiert sahen, wieder auf Schadenersatz hoffen. Das hat sich am Mittwoch bei der bereits dritten Auflage des Musterverfahrens vor dem Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart abgezeichnet. In einem zentralen Punkt tendiert der 20. Zivilsenat unter Vorsitz des OLG-Präsidenten Franz Steinle nun zur Sicht des klagenden Aktionärs.

 

Eine kursrelevante Insider-Information ist danach bereits am 17. Mai 2005 entstanden, als Schrempp mit dem damaligen Aufsichtsratschef Hilmar Kopper erstmals über sein mögliches Ausscheiden sprach. Daimler hatte die Öffentlichkeit jedoch erst nach dem entsprechenden Beschluss des Aufsichtsrates am 28. Juli informiert. Die betroffenen Aktionäre argumentieren, sie hätten ihre Aktien nicht verkauft, wenn sie vom geplanten Rückzug des umstrittenen Daimler-Chrysler-Chefs gewusst hätten. An der Börse hatte das Papier mit einem Kurssprung von etwa zehn Prozent auf die Nachricht reagiert.

OLG verhandelt Fall schon zum dritten Mal

In den zwei früheren Verfahren hatte das OLG Stuttgart jeweils einen Anspruch auf Schadenersatz abgewiesen. Beide Entscheidungen waren vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe und vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg aufgehoben worden, der Fall wurde zurück nach Stuttgart verwiesen. Dort ist er nun gemäß den Vorgaben aus Karlsruhe und Luxemburg neu zu bewerten. Danach können Insiderinformationen, die sofort veröffentlicht werden müssen, bereits bei Zwischenschritten und nicht erst beim Eintreten eines Ereignisses entstehen.

Ein solcher Zwischenschritt könnte nach der vorläufigen Auffassung des Gerichts das Gespräch zwischen Schrempp und Kopper gewesen sein. Damals habe der Konzernchef erstmals die Absicht geäußert, vorzeitig zurückzutreten; der Aufsichtsratsvorsitzende sei dem nicht entgegengetreten, sagte Steinle. Seit dieser Unterredung sei mit einem Führungswechsel zu rechnen gewesen. Auch für die Kläger ist das der entscheidende Termin.

Daimler relativiert entscheidendes Gespräch

Dagegen argumentierten die Daimler-Vertreter in der Verhandlung erneut, es habe sich nur um einen „Gedankenaustausch“ gehandelt; Schrempp und Kopper hätten lediglich „erste Überlegungen“ angestellt. Solche Gespräche müssten möglich sein, ohne dass gleich eine Pflicht zur Veröffentlichung entstehe. Eine allzu dogmatische Sichtweise drohe „das Wirtschaftsleben in gewisser Weise lahmzulegen“, mahnte ein Daimler-Anwalt. Eine Veröffentlichungspflicht habe „möglicherweise“ am 18. Juli bestanden, als Schrempp und Kopper vereinbarten, den gesamten Aufsichtsrat mit dem Wechsel zu befassen. Den Einwand von Daimler, die Börse hätte dem Treffen am 17. Mai keine Bedeutung beigemessen, bezeichnete das Gericht als „nicht überzeugend“.

Aus Sicht des Senats ist es auch fraglich, ob Daimler eine Ausnahme von der Veröffentlichungspflicht machen durfte. Zwei von drei Voraussetzungen dafür seien zwar erfüllt gewesen: der Autokonzern habe ein Interesse daran gehabt, dass seine Planungen nicht durch das vorzeitige Bekanntwerden erschwert würden. Eine Irreführung der Öffentlichkeit sei zudem nicht zu befürchten gewesen. Erhebliche Zweifel äußerte der Vorsitzende aber daran, ob die geforderte Vertraulichkeit gewährleistet worden sei. Strittig sei etwa, ob Schrempp bereits am 11. Juli den damaligen Konzernbetriebsratschef Erich Klemm über sein geplantes Ausscheiden unterrichtet habe, wie der Kläger behaupte. Insgesamt müsse der Konzern beweisen, dass er seine Pflichten nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt habe.

War Vertraulichkeit nicht garantiert?

„Die Vertraulichkeit war von vorne bis hinten nicht gegeben“, sagte der Kläger-Anwalt Klaus Rotter. So habe der damalige Kommunikationschef – ein enger Vertrauer Schrempps – bereits am Vortag der Bekanntgabe einen PR-Berater über den Wechsel informiert. Begründung: „nicht dass Sie morgen überrascht sind“. So sei es kein Wunder, dass der Rückzug des Daimler-Chrysler-Chefs in Stuttgart bereits „Tagesgespräch“ gewesen sei.

Rotter zeigte sich offen für einen Vergleich, sofern Daimler ein „substanzielles Angebot“ vorlege. Die Anwälte des Konzerns lehnten dies nicht grundsätzlich ab; man müsse es intern besprechen. Interessiert zeigten sie sich am Angebot des Gerichts, einen Anhaltspunkt für die Höhe möglicher Schadenersatzansprüche zu geben. Diese bezifferte Steinle auf 3,50 bis 2,50 Euro je Aktie, je nachdem, welchen Zeitpunkt für die Veröffentlichungspflicht man zugrunde lege.

Drei Monate Zeit für einen Vergleich

Die Parteien haben nun drei Monate Zeit, sich auf einen Vergleich zu verständigen. Andernfalls können sie sich bis August erneut schriftlich äußern, als Verkündungstermin wurde der 21. September anberaumt. Würde die Entscheidung erneut angefochten, könnte sich der bereits ein Jahrzehnt währende Rechtsstreit noch weitere Jahre hinziehen. Das Ergebnis könnte dann für manchen zu spät kommen – so wie für einen Aktionär, der zu dem Verfahren beigeladen war. Er sei, hieß es, „zwischenzeitlich verstorben“.