Im Prozess gegen einen 46-Jährigen ist eine mögliche Strafe zweitrangig. Er lebt in seiner eigenen Gedankenwelt.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Sindelfingen - Den allermeisten Menschen dürften die Aufnahmen der Überwachungskamera als unwiderlegbar gelten. Sie zeigen eine Schlägerei zwischen einem Ladendieb und einem Ladendetektiv. Der Dieb hat zuerst zugeschlagen. Der Detektiv wird später erzählen, er habe den Mann nur festgehalten, bis die Polizei kam. Tatsächlich hat er nicht zimperlich reagiert, auch dies zeigen die Filmausschnitte, aber darum geht es nicht in diesem Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht. Der Detektiv ist in diesem Fall das Opfer.

 

Eine Blondine läuft durchs Bild, zum Eingang des Einkaufsmarktes in Sindelfingen. Sie sieht die Männer kaum an, die sich inzwischen auf dem Boden wälzen. Es mag daran liegen, dass der Dieb bei der Rangelei seine Hose verloren hat. Etwa eine Viertelstunde später wird die Polizei den Wert der Beute ermitteln: 1,09 Euro, die zu bezahlen gewesen wären für einen halben Liter Apfelschorle in einer Plastikflasche und eine Tüte Vitaminbonbons.

Die Adresse des Angeklagten ist inzwischen ein psychiatrische Klinik

Gut sechs Monate später sitzen beide Männer im Saal neun des Landgerichts, der Detektiv als Zeuge, der Dieb als Angeklagter. Letzterer lebte bis zu jener Szene im vergangenen Mai in Sindelfingen. Inzwischen ist seine Adresse die psychiatrische Klinik Weissenau in Ravensburg. Was der 46-Jährige in den bewegten Bildern erkennt, ob er sich selbst in dem Mann ohne Hose wiedererkennt, ob er überhaupt hinsieht, weiß nur er. Der Mann sitzt vornübergebeugt, sein Mund steht offen.

Juristisch dürfte dieser Fall schwer zu greifen sein. Der Ladendiebstahl samt Körperverletzung ist nicht die einzige Straftat, die dem Angeklagten vorgeworfen wird, aber auch die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er schuldunfähig ist. Ein mögliches Strafmaß ist zweitrangig. Das Gericht wird zuoberst zu entscheiden haben, ob der 46-Jährige zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen werden muss.

An anderen Tagen ist der Lüfter des Projektors nahezu unhörbar, der die Bilder auf eine Leinwand wirft. An diesem Tag ist das Rauschen des Luftstroms oft genug das einzige Geräusch im Saal. Fragen des Richters Volker Peterke beantwortet der 46-Jährige mal nach langem Zögern, mal gar nicht. Es ist nicht so, dass er sich nicht bemühen würde. Die Dialoge klingen so: „Warum nehmen Sie Medikamente?“

„Ich hab’ ne Psychose halt.“

„Was macht die Psychose?

„Stimmen und so.“

„Was sagen Ihnen die Stim-

men?“

„Das kann ich nicht beantworten. Das ist Gedankenübertragung von Nachbarn und so.“

Der Mann glaubt, er sei eine Reinkarnation

Im Grunde kann dem Angeklagten ohnehin nichts mehr passieren. „Ich bin in einem Laden erschossen worden“, sagt er. Auf der Anklagebank sitze seine Reinkarnation, bewirkt durch Nexus. Wer oder was Nexus ist, weiß er nicht zu sagen. In seinem Denken sind seine Taten allesamt erklärbar, mutmaßlich auch entschuldbar. „Das ist mein Laden“, hatte er dem Detektiv auf die Frage geantwortet, warum er nicht bezahlt habe. In seiner Gedankenwelt ließe es sich so sehen. In ihr haben Außerirdische unter dem Laden ein Raumschiff vom Mars installiert, dessen Technik Holografien der Waren erzeugte. Er war im Grunde der Cheflogistiker. Seine Aufgabe war, an einem Computer in seinem Keller die künstlichen Lebensmittel zu programmieren.

Einen Nachbarn hatte der 46-Jährige ebenfalls geschlagen. „Der hat mein ganzes System durcheinander gebracht“, sagt er. Der Nachbar hatte gerügt, dass Pfandflaschen nicht in den Restmüll geworfen werden sollten. Darüber kam es zum Streit. Eine Nachbarin hatte er an einer Tankstelle beschimpft und gestoßen. „Ich habe sie zur Rede gestellt“, sagt er. Dies in dem Glauben, dass die Frau unter seiner Haustür hindurch ein Pulver in seine Wohnung gestäubt hat, das Insekten anlockt.

Ob und inwieweit die Psychose des Angeklagten therapierbar ist, wird ein Gutachter entscheiden müssen. Dem Anschein nach sind die Chancen auf eine Rückkehr in ein geregeltes Leben fragwürdig. Zum ersten Mal war der Mann im Alter von 19 Jahren in psychiatrischer Behandlung.