Noch nie sei ihm ein Fall begegnet, „bei dem einen die Tragik mit solcher Wucht anspringt“, sagt Peter Winckler. Der erfahrene Gerichtspsychiater hält die Frau, die auf der Autobahn 8 bei Merklingen ihre Tochter getötet und ihren Sohn schwer verletzt haben soll, aber nicht für schizophren.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm/Bad Ditzenbach - Zwei Stunden lang hat am Donnerstag der Tübinger Gerichtspsychiater Peter Winckler vor dem Landgericht Ulm den geistigen Zustand einer 36-jährigen Angeklagten beleuchtet, die am 19. Oktober an der Autobahn 8 bei Merklingen mutmaßlich ihre schlafende elfjährige Tochter im Auto erstochen und ihren zweijährigen Sohn mit dem Messer schwer verletzt hat. „Ich bin überzeugt davon, dass die Täterin psychisch krank ist“, schickte Winckler vorweg. Er sei sich zudem sicher, „dass wir es mit einem unkomplett gebliebenen erweiterten Suizid zu tun haben.“

 

Der Gutachter spricht gegen sein Bauchgefühl

Viermal nach der Festnahme der Angeklagten, die nach der abendlichen Attacke auf ihre schlafenden Kinder wohl auf die Autobahn gelaufen war, um sich überfahren zu lassen, habe er die 36-Jährige zu Gesprächen aufgesucht, sagte Winckler. Sein „Bauchgefühl“ habe ihm nach seiner ersten Visite gesagt, dass die mutmaßliche Täterin unter einer schweren Schizophrenie leiden müsse. Doch nach dem „Zusammensetzen vieler Puzzleteilchen“, auch während der zurückliegenden Prozesstage, tendiere er nunmehr zu der Diagnose, dass die Frau vielmehr an einer schweren Depression leide, die „wahnhaft überlagert“ sei. Genau werde sich das wohl erst in den nächsten „fünf bis zehn Jahren“ herausstellen.

Beide Befunde wiegen schwer und sind laut Winckler mit ähnlich unsicheren Heilungsperspektiven verbunden. Doch strafrechtlich gibt es durchaus einen gravierenden Unterschied. Wäre die Angeklagte schwer schizophren, hätte sie außerdem unter der „imperativen Macht von Stimmen“ gelitten, die zur „Mitnahmetötung“ aufforderten, dann, so Winckler, wäre aus seiner Sicht der Paragraf 20 des Strafgesetzbuches heranzuziehen, wonach unschuldig ist, wer im Zustand einer schweren krankhaften seelischen Störung eine Tat begehe. Eine einzige Zeugin im Prozess berichtete, wie die Angeklagte Stunden vor der Tat im Gespräch von solchen befehlenden Stimmen gesprochen habe.

Es gab wohl keine befehlende Stimmen

Doch Winckler ist der Meinung, diese Zeugin müsse etwas anderes gemeint haben – den damaligen Drang der Angeklagten, vielleicht „innere Gedanken“ in Worte zu fassen. Denn niemals vor und auch nicht nach der Tat, auch nicht gegenüber den Ärzten im Psychiatrischen Krankenhaus Bad Schussenried, habe die 36-Jährige von „akustischen Halluzinationen“ berichtet. Auch im Prozess hat die Angeklagte nur von Internetmobbing fantasiert und erzählt, sie und die Kinder seien fotografiert und am Telefon abgehört worden. Von Stimmen berichtete sie nichts. Zudem, so Winckler, sei die Angeklagte dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nach zu alt für den Ausbruch einer schweren Schizophrenie. Auch zeige sie keine „formalen Denkstörungen“, könne Sachverhalte zusammenhängend schildern.

Nach Wincklers Diagnose war die Frau zwar krank, als sie die Tat beging, aufgrund der Art der Erkrankung – der schweren Depression – jedoch lediglich vermindert schuldfähig, festgelegt in Paragraf 21 des Strafgesetzbuches. Folgt das Gericht dieser Auffassung, könnte es eine Haftstrafe gegen die 36-Jährige verhängen. Der Gutachter schränkte jedoch sogleich ein: Die 36-Jährige, deren Wahnvorstellungen bis heute selbst mit starken Medikamenten nicht beizukommen sei, bleibe wohl auf Jahre hinaus eine Gefahr für sich und andere und könne auf keinen Fall aus der Psychiatrie entlassen werden. Theoretisch könne eine Haftstrafe später mit dem Aufenthalt in einem geschlossenen Krankenhaus verrechnet werden.

Das Urteil fällt in zwei Wochen

Winckler erinnerte daran, dass der Mord des Ehemannes in der Schweiz und dessen Inhaftierung vor zwei Jahren die ganze „Katastrophe“ ausgelöst habe. Noch nie sei ihm ein Fall begegnet, „bei dem einen die Tragik mit solcher Wucht anspringt“. Er könne sich kaum ausmalen, so der Sachverständige, wie der überlebende Junge später „mit diesen Belastungen umgehen kann“. Das Urteil fällt am 27. Juli.