Im Prozess um den Sexualmord an einer Studentin in Freiburg kommt die Rolle der Jugendämter in den Blick. Warum hatten sie keine Zweifel am Alter von Hussein K.?

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Freiburg - Die Frau hört die Radionachrichten und ist entsetzt. Die 19-jährige Studentin Maria L. liegt missbraucht und ermordet hinter dem Freiburger Schwarzwaldstadion in der Dreisam. Wortreich erklärt die Frau den beiden jungen Männern, die seit einiger Zeit in ihrem Haus wohnen und mit denen sie wie üblich zum Einkaufen fährt, was passiert ist. Sie ahnt nicht, dass einer davon der Mann ist, nachdem nun eine 60-köpfige Sonderkommission fahndet. „Ich habe gar nicht aus dieser Perspektive gedacht“, sagt sie jetzt als Zeugin vor dem Freiburger Landgericht. Aber im Nachhinein sei es eigenartig gewesen. Auch als sie erklärt habe, dass man nun versuche, über einen DNA-Vergleich den Mörder zu finden, sei sie auf kein großes Interesse gestoßen.

 

Pflegemutter ist Zeugin, nicht die Beschuldigte

Die Frau ist die Pflegemutter von Hussein K., der sich seit Anfang September wegen Mordes vor der Gericht verantworten muss. Doch bevor sie mit ihrer Aussage beginnt, stellt die Vorsitzende Richterin etwas klar: „Sie sind als Zeugin hier und nicht als Beschuldigte.“ Das sagt sie weniger zu der Frau als zur Öffentlichkeit. Denn bei manchem, was man in den vergangenen Monaten habe lesen können, so die Richterin, hätte man fast meinen können, es laufe ein Ermittlungsverfahren gegen sie.

So erzählt die Frau, die selbst aus Afghanistan stammt, wie sie sich beim Anschwellen der Flüchtlingswelle als Dolmetscherin engagiert habe, wie sie Hussein K. kennenlernte, und wie es dazu kam, dass sie ihn gemeinsam mit ihrem Mann, einem Arzt, aufnahm. Das Haus ist groß, die Anliegerwohnung im Erdgeschoss steht leer. Dort soll sich Hussein, vom Jugendamt offiziell als 16-Jähriger registriert, in Selbstständigkeit üben. „Wir wollten eigentlich abends immer zusammen essen. Aber ich habe gemerkt, dass er das nicht so will“, sagt die Frau. Also lässt sie ihn sich alleine versorgen. Später zieht noch ein zweiter Flüchtlingsjunge ein.

Ja, sie seien schon „so eine Art von Erziehungsstelle“ gewesen, räumt die Frau ein. Sie habe auch regelmäßig nach den Jungs geschaut, ihnen die Mülltrennung erklärt und sie morgens geweckt, damit sie in die Schule gehen. Doch wenn Hussein K. mal wieder abends zu lange feiert, schreibt sie ihm eine Entschuldigung. Von seinen Alkoholexzessen, von denen seine Freunde im Zeugenstand berichten, weiß sie nichts. Alkohol und Drogen seien im Haus verboten. Allerdings hält sich Hussein ohnehin oft bei Freunden auf. Jedes komplette zweite Wochenende, aber auch ab und an unter der Woche habe er woanders übernachtet. „Ich habe es erlaubt, wenn er Bescheid gesagt hat.“ Als Taschengeld gibt sie ihm 400 Euro: das Kleider- und Essensgeld, das vom Jugendamt fließt, plus ein paar Euro obendrauf.

Gespräch mit dem Jugendamt kommt zu spät

Er habe ihr immer einen sehr selbstständigen Eindruck gemacht, sagt die Frau. In der Schule gilt er zunächst als Klassenbester und als vergleichsweise liberal. Doch offenbar hat er Probleme, seine Freizeit sinnvoll zu gestalten. Das kommt beim obligatorischen Hilfeplangespräch beim zuständigen Jugendamt des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald heraus. Er wolle gerne Sport machen und singen, es fehle ihm aber am nötigen Antrieb, notiert die Jugendamtsmitarbeiterin im August 2016. Das Gespräch findet viel zu spät statt. Durch die Sondersituation mit den vielen Flüchtlingen im Jahr 2015/16 sei man nicht früher dazu gekommen.

Auch die Eingruppierung von Hussein K. als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Ausländer wird von der Behörde nicht hinterfragt. „Das war ein Fehler“, stellt der Oberstaatsanwalt fest. Mittlerweile ist klar, dass der Angeklagte erwachsen, laut zweier Gutachten sogar mindestens 22 Jahre alt war. „Hinterher ist man immer klüger“, sagt die Jugendamtsmitarbeiterin und zuckt mit den Schultern.

Eine Woche nach seiner Einreise im November 2015 hatte das Jugendamt der Stadt Freiburg in einem 90-minüten Clearinggespräch das Alter festgestellt. Hussein habe angegeben, 16 zu sein, „das schien uns plausibel“, sagt der zuständige Sachbearbeiter. Das Gespräch und die Inaugenscheinnahme hätten das Ergebnis erbracht. Der Oberlippenbart ein Flaum, die Gesichtszüge jugendlich, der Adamsapfel kaum ausgebildet. Weitere Untersuchungen seien nicht vorgesehen gewesen.

Während das Gericht tagt, geht es in der Innenstadt zu wie bei einem Junggesellenabschied. Es ist Einführungswoche für die Erstsemester. Dutzende Gruppen ziehen durch die Stadt. Vielleicht wäre Maria L. dieses Jahr als Tutorin dabei gewesen.