Dass der Hauptangeklagte im Staufener Missbrauchsfall hochgradig rückfallgefährdet war, ist den Verantwortlichen nicht entgangen. Man habe ihn genau im Blick gehabt, sagt ein Beamter, der ihn überwachen sollte. Doch letztlich habe eine Handhabe gefehlt.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Freiburg - Der Aufsatz zählt zehn Seiten. Handschriftlich schildert Christian L., der Hauptangeklagte im Staufener Missbrauchsprozess, darin, wie er sich an einem kleinen Mädchen vergeht. Verfasst hat er das Papier vor fünf Jahren. Kinderpronos im Internet sind für ihn zu diesem Zeitpunkt außer Reichweite, ebenso echte Opfer. Da muss die Kraft der Fantasie wirken. Christian L. sitzt in Haft – schon damals wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen. Nach dem Hinweis eines Mithäftlings findet das Wachpersonal das Dokument mit dem beziehungsreichen Titel „Familienausflug“ in seiner Zelle.

 

Seitdem sei klar gewesen, dass der inzwischen 39-Jährige seine pädophilen Neigungen keineswegs in der Haft abgelegt habe, berichtete ein pensionierter Polizist am Mittwoch vor dem Freiburger Landgericht. Dort muss sich Christian L. zusammen mit seiner 48 Jahre alten Lebensgefährtin verantworten. Die beiden haben gestanden, mehr als zwei Jahre lang den heute neunjährigen Sohn der Frau sexuell missbraucht und fremden pädophilen Männern gegen Geld zum sexuellen Missbrauch überlassen zu haben.

Vorbereitungen für die Haftentlassung

Es bestehe eine erhöhte Rückfallgefahr, habe der Anstaltspsychologe schon damals gewarnt, sagte der Polizist im Zeugenstand. Hafterleichterungen seien gestrichen worden, eine etwaige vorzeitige Entlassung zur Bewährung wurde abgelehnt. Gleichzeitig habe man sich in Stuttgart beim Landeskriminalamt zusammengesetzt. Im Rahmen des „Konzepts zum Umgang mit besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftätern“ (KURS) wurde eine Risikobewertung vorgenommen und Christian L. in die mittlere Kategorie eingruppiert: Probanden mit hoher Rückfallgefahr. Er dürfe sich Kindern nur im Beisein von Sorgeberechtigten nähern, lautete eine zentrale gerichtliche Auflage für die Zeit nach der Haftentlassung. Sogar eine elektronische Fußfessel habe der Oberstaatsanwalt dem Probanden anlegen wollen, erinnerte sich der Polizeibeamte. „Wir von KURS sind dem gefolgt.“ In diesem Punkt entschied das zuständige Gericht allerdings anders.

Der 60-jährige Beamte war der Mann, der im Rahmen des KURS-Programms den Angeklagten überwachen sollte. Von Anfang an habe er ihn genau im Blick gehabt. Die monatlichen Treffen habe Christian L. anstandslos besucht. Er habe allerdings von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sein Proband das vor allem mache, um nicht aufzufallen. Zudem habe sich gezeigt, dass Christian L. nicht aufrichtig gewesen sei. Wohl habe er davon erzählt, dass er eine Frau kennen gelernt habe. „Als ich nachgefragt habe, ob sie ein Kind hat, wurde dies verneint“, sagte der Beamte.

Der Beamte fällt aus allen Wolken

Als er im Frühjahr 2016 bei einer Überprüfung festgestellt habe, dass die neue Lebensgefährtin sehr wohl ein Kind hatte und Christian L. möglicherweise sogar schon bei der Familie eingezogen war, sei er aus allen Wolken gefallen. „Ich war überrascht und erbost.“ Allerdings habe ihm eine Handhabe gefehlt. Denn die Mutter habe behauptet, dass sie ihren Sohn niemals mit Christian L. alleine lasse. „Ich hatte also keinen Verstoß gegen die Führungsauflagen.“

Das konnte er Christian L. erst ein Jahr später nach entsprechenden Hinweisen des Vermieters nachweisen. Daraufhin informierte er das Jugendamt und leitete ein Ermittlungsverfahren ein. Trotz dieser Verzögerung halte er das KURS-Programm nicht für schlecht. „Aber wir haben oft keinerlei Werkzeuge in der Hand.“ Im vorliegenden Fall sei alles sehr konspirativ abgelaufen. „Wir hatten keine Chance“, sagte der Beamte.

Das Urteil gegen das Paar wird voraussichtlich am 20. Juli fallen. Insgesamt gibt es im Staufener Missbrauchskomplex acht Beschuldigte. Fünf wurden bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Prozess gegen einen Mann aus Spanien, der für den Missbrauch des Jungen mehrere tausend Euro bezahlt haben soll, beginnt demnächst vor dem Freiburger Landgericht.