Tricksen, wenn’s unangenehm wird: Der Fall der 48 Prüfungsabbrecher an der Universität Hohenheim weist auf ein gesellschaftliches Phänomen hin, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Stuttgart in den Schlagzeilen. Ausnahmsweise nicht wegen S 21, schmutziger Luft oder dem VfB. Aufmerksamkeit über die Stadtgrenzen hinaus erregen vielmehr Studenten der Uni Hohenheim. Schön wäre es gewesen, sie hätten mit herausragenden Leistungen von sich reden gemacht. Tatsächlich aber haben etliche von ihnen auf ziemlich einzigartige Weise im Fach Wirtschaftswissenschaften eine Grundlagenprüfung geschmissen: 48 von 202 Absolventen standen bei der Prüfung auf und gingen – angeblich wegen Kopfschmerzen, Übelkeit und Sehstörungen. So steht es in den nachträglich beschafften Attesten, die – ein weiteres Kuriosum – von ein und demselben Arzt stammten. Dieser darf sich nicht beklagen, wenn man ihn „Doc Holiday“ nennt.

 

Klar, dass der Massenexodus der Studenten seit Tagen Gesprächsstoff ist. Einschließlich der Frage, ob das Schummeln und Ausflüchtesuchen über den Fall Hohenheim hinaus vielleicht ein gesellschaftliches Phänomen ist. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, landet man schnell bei namhaften Automobilherstellern. Vor die Aufgabe gestellt, die EU-Grenzwerte für Stickoxide einzuhalten, gaben Entwickler bis hinauf zum Manager vor, mehr zu können, als sie draufhatten – oder aber sie wählten bewusst den billigsten Weg. Man nennt es die Dieselaffäre. Ob sich die Verantwortlichen jemals gefragt haben, welches Signal sie mit ihrer Schummelei in die Gesellschaft hinein senden? Speziell an die Jungen?

Mogelpackungen finden sich im Großen und im Kleinen

Hindrehen, ausweichen, schönen: Um des eigenen Vorteils willen bedienen sich Menschen Verhaltensweisen, die sie moralisch ablehnen, wenn andere so handeln. Sich selbst aber verzeiht man vieles; manchmal ist ein Unrechtsbewusstsein gar nicht vorhanden. Das gilt im Großen – man denke an die irrwitzigen Vorgänge um die inzwischen aufgelöste International Unit am Stuttgarter Klinikum. Mogelpackungen findet man aber auch im Kleinen: Die Masche, sich von Verkehrssünder-Punkten freizukaufen, indem man sich im Internet einen Strohmann besorgt, ist so ein Beispiel für private Schummelei. Wir haben jüngst darüber berichtet.

Natürlich lassen sich die Fälle nicht direkt vergleichen. Sie zeugen jedoch von einer ähnlichen Haltung, nämlich: sich etwas herauszunehmen. Wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht zusammenpassen, wenn ein Zu-viel-Wollen von einem Zu-wenig-Können begleitet wird, wenn der Druck steigt, biegen sich manche die Realität in Richtung der eigenen Wünsche zurecht. Auch mit Tricks. Damit kann man manches erreichen, eines nicht: Glaubwürdigkeit.

Die Prüfungsabbrecher von Hohenheim waren der Meinung, die Aufgaben waren zu schwer und hätte so nicht gestellt werden dürfen. Dieser Situation entzogen sie sich mit falschen Attests. Nicht vergessen werden dürfen die 154 Prüflinge, die den vier Dutzend Abbrechern nicht folgten, sondern sich den Aufgaben stellten. Die Ehrlichen, das ist die gute Nachricht, die man daraus ableiten kann, sind immer noch in der Mehrheit.

jan.sellner@stzn.de