Wenn eine Ehe erzwungen wird, steigt das Risiko für Depressionen und andere psychische Krankheiten deutlich. Am Beispiel von türkischstämmigen Migrantinnen hat das nun erstmals eine Studie mit Zahlen belegt.

Stuttgart - Wer interessiert sich in der Wissenschaft schon für Zwangsverheiratungen?“, fragt Jan Kizilhan mit leiser Stimme. Bis auf ihn, den türkischstämmigen Psychologen, der an der Universität Freiburg die Arbeitsgemeinschaft Migration und Rehabilitation und an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen den Studiengang Soziale Arbeit mit psychisch Kranken und Suchtkranken leitet, offenbar niemand, so scheint es. Jedenfalls gab es bisher so gut wie keine gesicherten Daten zur Häufigkeit und zu den medizinisch-psychologischen Folgen von Zwangsverheiratungen.

 

Gab – wohlgemerkt, denn Kizilhan hat nun im Fachblatt „Psychiatrische Praxis“ eine Studie veröffentlicht, die erstmals Zahlen zu zwangsverheirateten türkischen Migrantinnen liefert. Diese Frauen – so das Fazit der Studie – leiden oft ein Leben lang an den Folgen ihrer Zwangsverheiratung. Sie sind deutlich häufiger psychisch krank als freiwillig Verheiratete und haben im Schnitt mindestens vier Selbstmordversuche hinter sich. Seitens des Ehemanns und dessen Familie wurden sie misshandelt, haben körperliche und psychische Gewalt erfahren oder eine Vergewaltigung erlebt. Die Eltern und Geschwister haben sie bei all dem im Stich gelassen.

Wie viele Migrantinnen tatsächlich betroffen sind, könne nur aufgrund der in Anspruch genommenen Beratungen vermutet werden, so Jan Kizilhan. In Berlin ermittelte ein Arbeitskreis für das Jahr 2013 insgesamt 460 Zwangsverheiratungen allein für die Hauptstadt. Die Dunkelziffer dürfte aber hoch sein.

Kizilhan, der zurzeit wegen seines Engagements für verfolgte Jesidinnen in den Medien präsent ist, hat Daten aus einer größeren „Vergleichsstudie über zehn Jahre stationärer psychosomatischer Rehabilitation von türkeistämmigen Frauen“ gezogen, die an zwei baden-württembergischen Kliniken in Bad Saulgau und Königsfeld sowie einer bayerischen Klinik in Simbach erhoben wurden.

Häufigere Diagnosen in allen Kategorien

Alle drei Kliniken sind auf die Behandlung von türkischstämmigen Patienten spezialisiert. Der Begriff „Zwangsverheiratung“ taucht auf ihren Websites aber nicht auf. Die Klinik am schönen Moos in Bad Saulgau etwa beschreibt die Problemlage in ihrer Abteilung Interkulturellen Psychosomatik so: „Viele Türken fühlen sich auch nach vielen Jahren in Deutschland noch fremd.“ Hinzu komme „ein Gefühl der Unzufriedenheit mit den eigenen Söhnen und Töchtern, die die türkische Kultur oftmals nicht so hoch schätzen wie die Eltern und die ein die Eltern befremdendes Leben führen“. Diese Gefühle könnten auch krank machen. Künftig dürfte ein weiterer Krankmacher hinzukommen.

120 bereits in der Türkei zwangsverheiratete Frauen hat Kizilhan in seiner Studie einer Gruppe von 150 Frauen gegenübergestellt, die angaben, freiwillig geheiratet zu haben. Alle Migrantinnen lebten im Schnitt schon mehr als zehn Jahre in Deutschland. Was die psychischen Krankheitsbilder betraf, so schnitten die Zwangsverheirateten in allen Kategorien massiv schlechter ab.

Die in beiden Gruppen am häufigsten gestellte Diagnose Depression betraf 68,6 Prozent der Zwangsverheirateten im Gegensatz zu 44,5 Prozent der Vergleichsgruppe. Ängste/Zwänge, Essstörung und Suizidalität wurden Zwangsverheirateten sogar doppelt so häufig zugeschrieben wie freiwillig Verheirateten. Nur bei Wahnvorstellungen und Schizophrenie unterschieden sich die beiden Gruppen kaum voneinander. Die Beschwerden der Patientinnen traten mit Beginn der Zwangsverheiratung auf, blieben und verstärkten sich in der Folge sogar noch.

Kizilhan betont, dass auch Männer von Zwangsverheiratungen betroffen sein können, aber in deutlich geringerem Maße. Auch Jesidinnen und Christinnen aus dem Nahen Osten würden zwangsverheiratet, die patriarchalischen Strukturen seien aber vor allem islamisch geprägt. Auf türkische Migrantinnen als Probandinnen habe er sich konzentriert, um zu vermeiden, dass unbekannte kulturelle Faktoren die Ergebnisse beeinflussen.

Der Psychologe fordert Aufklärung in der Grundschule

Die Studie zeigt auch: Traditionen, die im Herkunftsland normal sind oder zumindest geduldet werden und im Zielland nicht konsequent verfolgt und bestraft werden, verursachen enorme Kosten für die hiesige Versichertengemeinschaft. So müssen die zwangsverheirateten Ehefrauen sechs bis acht Wochen in Kliniken zubringen, und das oft mehrfach, wo ihnen ganzheitliche Therapieangebote gemacht werden wie Akupunktur, Sport und Massage. Hinzu kommen psychosoziale Beratungen. „Die Frauen müssen die Kompetenz erlernen, stark zu sein“, sagt Kizilhan. Oft helfe es nur, sich von Ehemann zu trennen und die gemeinsame Wohnung zu verlassen, was viele aus Sorge um ihre Kinder aber nicht schafften. „Mit zunehmendem Alter der Frauen sinkt allerdings auch die Gefahr von Gewalt in der Ehe“, sagt der Psychologe.

Letztlich seien die Frauen erwachsen und müssten selbst eine Entscheidung treffen, sagt Kizilhan. Mit den Ehemännern zu reden sei für die Ärzte schwierig bis unmöglich. „Die Ehemänner wollen zwar, dass ihre Frauen medizinisch behandelt werden, damit sie wieder funktionieren. Sie kommen ja oft mit körperlichen Problemen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Dass die Seele dahintersteckt, wollen diese Männer nicht wahrhaben.“

Kizilhan befürchtet, dass die Flüchtlingskrise die Zahl der zwangsverheirateten Frauen in Deutschland wieder in die Höhe treiben könnte: „Während die Zahl bei den Migrantinnen, die in dritter oder vierter Generation hier leben, rückläufig ist, werden die neu hinzukommenden Flüchtlinge je nach Herkunftsland das Problem wieder verschärfen.“ Als besonders problematische Herkunftsländer nennt Kizilhan den Irak, Syrien, Afghanistan, Pakistan, den Jemen und die Osttürkei. „Dort sind die Familienstrukturen am konservativsten.“ Das Thema Zwangsverheiratung müsse konsequent verfolgt und am besten schon ab der dritten, vierten Klasse im Schulunterricht behandelt werden. „Wir müssen den Kindern verschiedene Heiratsformen erklären und sie darüber informieren, dass Frauen hier sehr gute Rechte haben und Zwangsheiraten bei uns nicht normal, sondern strafbar sind. “

Einsatz für betroffene Frauen

Baden-Württemberg
Das Landesforum gegen Zwangsverheiratung ist ein Zusammenschluss mehrerer Ministerien und Verbände. Es tagt zweimal im Jahr. Wer dort mitarbeiten will, kann sich beim Ministerium für Integration, Telefon 07 11/3 35 03-3 33, melden.

Hilfsorganisation
Terre des femmes fordert die Reformierung des Personenstandsgesetzes, insbesondere die Wiedereinführung des im Jahr 2009 abgeschafften Verbots der religiösen Voraustrauung. Danach wäre eine religiöse Eheschließung wie zuvor nur nach standesamtlicher Trauung erlaubt. Die Gesetzesnovelle von 2009 begünstige Zwangs- und Mehrfachehen, beklagt Terre des femmes.