Ohne den täglichen Besuch des Ambulanten Psychiatrischen Pflegedienstes, käme eine junge Frau oft sicherlich gar nicht aus dem Bett. Viele Klienten würden ihre Tabletten sonst nicht einnehmen. Doch bei dem Pflegedienst geht es um mehr als die Medikamentenvergabe.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Um kurz vor 9 Uhr sitzt Carola Okkels in einer Einzimmerwohnung und öffnet Tablettenpackungen. Pille für Pille drückt sie heraus, befüllt Medikamentenboxen und ist dabei ganz Ohr. Die Krankenpflegerin lässt sich nicht anmerken, dass das, was Waltraud Heinz (Namen der Betroffenen geändert) erzählt, nicht neu für sie ist. Waltraud Heinz knetet ihre Hände, während sie mit monotoner Stimme über eine anstehende Operation spricht und über eine Sehnsucht: „Ich vermisse meine Mutter“, sagt die 69-Jährige. Tonlage und Tempo bleiben gleich. Vielleicht liegt das an den vielen Medikamenten, die sie nehmen muss. Bei Waltraud Heinz wurde vor vielen Jahren eine Schizophrenie diagnostiziert, die aber unter Kontrolle ist. Nach einer schweren körperlichen Erkrankung kam eine Depression hinzu. Dennoch kann sie weiter in ihrer Wohnung leben.

 

25 Klienten werden zu Hause versorgt

Möglich macht das die Ambulante Psychiatrische Pflege des Gemeindepsychiatrischen Zentrums (GPZ) der Evangelischen Gesellschaft in Möhringen. Einmal am Tag schaut eine Pflegekraft vorbei, um nach ihr zu sehen. Sie sorgt in dem Zuge auch dafür, dass die Seniorin nicht vergisst, den Blutzucker zu messen. Diese ist eine von 25 Klientinnen und Klienten des Möhringer Dienstes. Die Krankheitsbilder sind laut der Bereichsleiterin des GPZ, Kirsten Wolf, weit gefächert: von Schizophrenie über bipolare Störungen, Depressionen und Psychosen bis zu Borderline. Das Ziel: Klinikaufenthalte zu verhindern und ein Leben zu Hause zu ermöglichen. Ein Mann mit einer Angststörung beispielsweise wird jeden Morgen besucht. Dann kann er über seine Ängste reden und schafft es, zur Arbeit zu gehen. Es geht also um mehr als die Medikamentengabe. Aber auch darauf haben die Pflegekräfte natürlich den Blick.

„Haben Sie die Medis schon genommen?“, fragt Carola Okkels scheinbar beiläufig gegen Ende ihres Besuchs. „Ne.“ Waltraud Heinz schluckt die Tablette, misst anschließend ihren Blutzucker, er ist zu hoch. Der Übeltäter ist schnell ermittelt: ein Fleischsalatbrötchen. Die Seniorin gelobt Besserung. Carola Okkels verabschiedet sich. Morgen komme eine Kollegin, sie selbst sei in zwei Tagen wieder da. Ob Waltraud Heinz noch ins GPZ komme? „Heute ist Backtag!“ Nein, diesmal nicht. Sie sei eingeladen.

In der Regel besucht Carola Okkels acht bis zwölf Kranke auf einer Tour. Viele sind schon jahrelang Klienten. Bei manchen reicht ein Besuch in der Woche, andere, wie Waltraud Heinz, müssen engmaschig betreut werden und haben zudem körperliche Erkrankungen. Die Fachkraft hat sich schon von psychotischen Patienten anbrüllen lassen oder wurde von der Polizei bei Zwangseinweisungen gerufen, um beruhigend zu wirken. Ihren Job macht sie dennoch gerne. Schon in der Ausbildung habe sie der psychiatrische Bereich am meisten angesprochen, sagt sie. Auch habe man mehr Zeit mit den Klienten als bei einem normalen Pflegedienst – aus gutem Grund. Mit Hektik kämen die Klienten gar nicht zurecht.

Der Pflegedienst ist ihr „Weckdienst“

Die nächste Kranke ist nicht einmal halb so alt wie Waltraud Heinz, sie lebt im Betreuten Wohnen. Melanie Rolf zögert kurz, als Carola Okkels um Einlass bittet. Ihr Hund habe auf den Boden gemacht. „Ich kam noch nicht zum Wischen.“ Dann macht sie doch die Tür auf. Der Fleck ist gut zu sehen – und zu riechen. Die 32-Jährige hat eine Antriebsstörung gepaart mit einer Depression. Seit sie vor rund einem Jahr aus der Klinik entlassen wurde, kommen Carola Okkels und ihre drei Kolleginnen im Wechsel um 9 Uhr morgens vorbei. Der Pflegedienst sei ihr „Weckdienst“, sagt Melanie Rolf. „Es tut mir gut, wenn morgens jemand kommt und fragt, wie es mir geht.“

Es ist auch schon vorgekommen, dass eine der Frauen mit dem Hund gegangen ist, weil es seinem Frauchen zu schlecht ging. Carola Okkels zieht die Tablette des Tages hervor, sie reden noch etwas. Melanie Rolf berichtet, dass sie das Chaos in ihrem Zimmer lichten will. Und sie hätte gerne eine Aufgabe, vielleicht drei Stunden Arbeit am Tag. Aber sie müsse langsam machen. „Wenn das System fällt, ist es schwierig“, drückt sie es aus. Ihre Pflegerin hat einen Vorschlag: Sie könne Melanie Rolf jetzt ins GPZ mitnehmen. Eben im Auto kam der Anruf, ihre nächste Klientin warte dort statt in ihrer Wohnung auf sie. Melanie Rolf fährt gerne mit. „Wenn ich im GPZ bin, ist mein Tag ausgefüllter“, sagt sie.

Zuerst die Tablette, dann das Geld für den Tag

Die Pflegekräfte sind immer per Handy erreichbar. So können sie in einer Krise, bei einer Panikattacke sofort reagieren. Oder kurzfristig zu einem anderen Treffpunkt kommen. Bei der nächsten Klientin ist das regelmäßig nötig. Die verwirrte Frau steht in der Nähe des Eingangs des GPZ, murmelt etwas von einem Zeugnis, für das sie „wie besessen“ lerne. Sie ist schon lange aus dem Zeugnisalter heraus, vielleicht Mitte 70, hat ungepflegtes Haar, schlechte Zähne. Der Kontakt ist kurz. Carola Okkels gibt ihr eine Tablette, danach 6,50 Euro, die Frau unterschreibt. Es ist ihr Geld für den Tag, weil sie mit großen Beträgen nicht umgehen kann – und für sie der Grund, den Termin nicht platzen zu lassen. Dann noch die Verabredung für den nächsten Tag: 9.30 Uhr im GPZ? Kopfschütteln, die Frau murmelt etwas für Außenstehende Unverständliches, das Okkels aber versteht. „Alles klar, dann treffen wir uns an der Haltestelle – und wenn es nicht klappt, rufen Sie an.“ Kopfnicken, dann ist die Frau auch schon zur Tür raus.

Mit ihr, ist sich Kirsten Wolf sicher, wäre jeder andere Pflegedienst überfordert. Natürlich zwinge man die Klientin nicht, ihre Tabletten zu nehmen, aber über die Geldübergabe sei das Ganze positiv besetzt. Und die Alternative sei klar: dann müsste sie ins Pflegeheim in die geschlossene Abteilung.