Die psychische Belastung im Berufsleben nimmt zu, warnen Betriebsärzte auf ihrer Jahrestagung. Viele Menschen nehmen die Probleme mit nach Hause. Dies wiederum belastet ihr Privatleben – es entsteht ein Teufelskreis.

Stuttgart - Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelt, das Handy meldet eine SMS, und die E-Mails am Computer trudeln im Minutenabstand ein. Gleichzeitig möchte die Kollegin unbedingt eine wichtige Information, und die Präsentation für das nachmittägliche Meeting ist noch nicht fertig. Der moderne Berufsalltag besteht immer häufiger aus Multitasking, und der arbeitende Mensch ertrinkt fast in der Informationsflut. Und natürlich wird im digitalen Medienzeitalter verlangt, auch nach Dienstschluss immer erreichbar zu sein. Viele Menschen nehmen damit ihre beruflichen Probleme mit nach Hause in ihr Privatleben.

 

Wer sich ständig überfordert fühlt und nie abschalten kann, muss mit psychischen Problemen rechnen. „Häufig liegen die Auslöser von psychischen Krankheiten am Arbeitsplatz im Strukturwandel der Arbeitswelt“, sagt Wolfgang Panter, der Präsident des Verbandes der Deutschen Betriebs- und Werksärzte. Die Mitglieder des Verbandes treffen sich seit gestern auf ihrer Jahrestagung in Weimar, um beispielsweise über die „psychische Gesundheit am Arbeitsplatz“ zu diskutieren. Psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen und Angststörungen durch Stress am Arbeitsplatz stellten für Arbeitnehmer in Deutschland ein immer größer werdendes Problem dar, so Panter. 2010 schieden etwa 70 000 Beschäftigte aufgrund psychischer und psychosomatischer Erkrankungen vorzeitig aus dem Berufsleben aus. Jahr für Jahr wachse diese Zahl. Die durchschnittliche Dauer der Krankheit liege zwischen 20 und 40,5 Tagen.

Jede zweite Krankschreibung wird wegen psychischer Leiden ausgestellt

Nach Angaben einer Studie, die vom Betriebsärzteverband in Auftrag gegeben wurde, bestätigten 40 Prozent der befragten Arbeitnehmer, dass ihre Arbeit Stress erzeugt – so schlimm, dass es den Betroffenen oft nicht mehr möglich sei, privaten oder familiären Pflichten nachzukommen. Zudem glauben 30 Prozent der Befragten, dass sie wegen seelischer oder emotionaler Probleme wiederum ihre Arbeit vernachlässigen. Der Gesundheitsreport 2012 der DAK hat zudem ergeben, dass mittlerweile jede zweite Krankschreibung wegen psychischer Leiden wie Depressionen oder Burn-out ausgestellt wird.

Die Gründe für den steigenden Stress im Job sieht der Betriebsarzt Panter unter anderem in der Veränderung der gesellschaftlichen Werte, „weg vom traditionellen Familienleben und persönlichen Beziehungen hin zur multidimensionalen Vernetzungskultur“. Viele Menschen müssen sich inzwischen auf viele Informationen gleichzeitig konzentrieren, die den Arbeitnehmer über verschiedene Medien erreichen.

Unterbrechungen beim konzentrierten Arbeiten sind Gift für die Effektivität

Dieses sogenannte Multitasking funktioniert bei einfachen Tätigkeiten ganz gut. Während man zur Kantine geht, kann man gleichzeitig mit der Kollegin über das Wetter reden und auf dem Handy checken, ob es neue Nachrichten gibt. Doch bei komplexen Tätigkeiten steigt das Gehirn aus: Eine zentrale Steuereinheit im Gehirn, welche für die kognitive Aufgabenverteilung zuständig ist, kann nicht gleichzeitig mehrere Prozesse gleichzeitig ausführen. „Diese Steuereinheit fungiert vielmehr als Flaschenhals. Sie lässt zu einem Zeitpunkt nur einen Prozess passieren und kann nur einen Prozess gleichzeitig bearbeiten“, fasst Anja Baethge, Arbeitspsychologin an der Universität Leipzig, in einem Arbeitspapier zusammen. Für die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat die Psychologin die Auswirkungen des Multitaskings und ständigen Unterbrechens der Arbeit untersucht.

Wer an einer Präsentation arbeitet, sollte nicht gleichzeitig versuchen, wichtige E-Mails zu lesen. „Das gleichzeitige Bearbeiten von Aufgaben innerhalb einer Struktur kann zu Fehlern führen“, ist in dem Bericht zu lesen. Zudem sind Unterbrechungen beim konzentrierten Arbeiten Gift für die Effektivität: Wer aus seinen Überlegungen unsanft herausgerissen wird, findet nur mit großer Zeitverzögerung wieder hinein. Wer also immer mehrere Dinge gleichzeitig im Blick haben muss, wird auch anfälliger für Fehler.

Es muss nachhaltige betriebliche Lösungen geben

Viele Menschen nehmen die Probleme aus dem Beruf mit nach Hause. Einen Feierabend gibt es nicht, denn an Entspannung ist nicht zu denken. Und wer nicht richtig abschalten kann, leidet oft unter Schlafproblemen und ist auch am nächsten Tag nicht mehr in der Lage, seine Arbeit gut zu machen – ein Teufelskreis beginnt, der nicht selten in psychischen und psychosomatischen Leiden mündet. Auch mit körperlichen Folgen, wie etwa Diabetes oder Herzproblemen, müssen Betroffene rechnen. Weitere Studien von Medizinern weltweit haben außerdem ergeben, dass Freizeit für die effektive Arbeit unerlässlich ist. Wer die Gedanken an seine Arbeit am Abend und im Urlaub aus dem Kopf bekommt, kann im Beruf oft mehr leisten.„Die Zunahme an psychischen Erkrankungen und die damit verbundenen Fehlzeiten der Beschäftigten fordern Firmen und Betriebsärzte heraus“, sagt Panter. Hier müsse es nachhaltige betriebliche Lösungen geben, welche die gesamte Kette von Prävention, Früherkennung und Therapie bis zur Wiedereingliederung umfassten.

Panter sieht vor allem Führungskräfte in der Verantwortung, gefährdete Mitarbeiter rechtzeitig anzusprechen. Unterstützung könnten sie durch den Betriebsarzt bekommen. „Betriebsärzte sind beim Thema psychische Gesundheit der Ansprechpartner vor Ort. Sie unterstützen die Firmen beim Erkennen von Risiken und dabei, Lösungen zu finden.“

Allerdings, das betonen die Werksärzte in Weimar, muss Arbeit nicht nur stressig und psychisch belastend sein. Vielmehr kann Anerkennung und Erfolg im Job auch fit halten. Die Arbeit ist für manche Menschen zudem ein wichtiger Bestandteil ihrer sozialen Beziehungen.