Niels H. sitzt bereits wegen Mordes an Patienten in Haft. Doch das ganze Ausmaß seiner Verbrechen kam erst nach und nach ans Licht. Was in so genannten Todesengeln vorgeht und warum es so schwer ist, die Taten aufzudecken, darüber spricht der Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, Karl Beine.

Stuttgart/Witten - Perfider kann man sich einen Mörder kaum vorstellen: der verurteilte Pfleger Niels H. hatte Patienten in Krankenhäusern in Delmenhorst und Oldenburg Medikamente gespritzt, die Herzversagen oder einen Kreislaufkollaps auslösten. Dann belebte er die Schwerkranken wieder, um als heldenhafter Retter vor seinen Kollegen dazustehen. Das gelang jedoch nicht immer. Niels H. ist kein Einzelfall. Der Wissenschaftler, Chefarzt am St. Marien-Hospital in Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke, Karl Beine, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema. Für sein Buch „Krankentötungen in Kliniken und Heimen – Aufdecken und Verhindern“ hat er die von den Gerichten abgeschlossenen Tötungsserien untersucht und Täterprofile erarbeitet. Im Interview spricht er über den Fall Niels H. und die Persönlichkeitsstruktur von so genannten Todesengeln.

 
Sie geben sich als Helfer aus und töten am Ende ihre Patienten – was geht in so genannten Todesengeln vor?
Das ist unterschiedlich. Man kann sicher davon ausgehen, dass keiner dieser Menschen den Pflegeberuf ergriffen hat, in der Absicht am Ende zu töten, sondern in erster Linie, um zu helfen. Bei einigen führen dann Persönlichkeitsmuster und situative Umstände zu einer unglückseligen Verkettung. Die wiederum führt dazu, dass die Täter wie im Fall von Niels H. sich eindeutig unterfordert fühlen. Niels H. war langweilig, er hat aufgrund eines schwachen Selbstwertgefühls das Bedürfnis entwickelt, besondere Anerkennung zu erfahren. Er hat vorsätzlich lebensbedrohliche Zustände herbei geführt mit fünf verschiedenen Medikamenten, die Leute anschließend reanimiert und sich dann als grandiosen Retter feiern lassen.
Hätte man die Tötungen verhindern können?
Die Tötungen in Delmenhorst hätten verhindert werden können, wenn man in der Klinik in Oldenburg rechtzeitig reagiert hätte. Dort gab es bereits dringende Verdächtigungen. Niels H. ist gleichwohl weg gelobt worden und hat dann unmittelbar nachdem er in Delmenhorst angefangen hat, weitere Tötungen begangen. Nichtsdestotrotz ist es überhaupt nicht gerechtfertigt, die Krankenschwestern und Pfleger unter Generalverdacht zu stellen. Aufgrund des Zeitdrucks sind sie so fokussiert auf ihre eigene Arbeit, dass sie oft nicht rechts und nicht links schauen können. Zeitdruck macht anfällig für Fehler und für Unachtsamkeit. Wenn es bereits Verdächtigungen gibt, sind die Krankenhäuser oft bemüht, die Mitarbeiter los zu werden und sind der Auffassung, das Problem sei für sie damit erledigt. Der unbedingte Wille, Fehler aufzuklären, ist nicht besonders ausgeprägt. Die Krankenhäuser fühlen sich oft mehr ihrem Image verpflichtet als der Patientensicherheit.
Oft heißt es, die Täter würden aus Mitleid handeln. Wie soll man das verstehen?
Das ist im günstigsten Fall eine reine Schutzbehauptung. Niels H. hat die lebensbedrohlichen Zustände herbei geführt, ohne mit den Patienten darüber zu reden, sie waren in aller Regel gar nicht ansprechbar. Mitleid setzt immer das Wissen um die Bedürfnisse des Patienten voraus. Das war aber in aller Regel nicht der Fall. Kein späteres Opfer hat den Täter darum gebeten, getötet zu werden.
Morde werden in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung am wenigsten erwartet. Haben die Täter deswegen leichtes Spiel?
Ja, natürlich. In solchen Einrichtungen wird ja auch unter normalen Umständen gestorben und viele der Tötungsmethoden, die Niels H. angewendet hat, sehen von außen aus wie normale medizinische Maßnahmen. Deshalb ist es so schwer, solche Taten zu erkennen. Es ist aber auch schwer, einem Kollegen, mit dem man unter Umständen jahrelang zusammen gearbeitet hat, so etwas zuzutrauen. Das ist ja für die meisten Menschen undenkbar, dass jemand hingeht und Menschen tötet wenn er einen helfenden Beruf ausübt. Das ist ein doppelter Tabubruch.