Noch nie haben die Deutschen über einen so langen Zeitraum in Wohlstand, Frieden und Sicherheit gelebt wie heute. Trotzdem haben sie dauernd Angst. Woran liegt das?

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Die Einwohner in Asterix’ kleinem gallischen Dorf gelten alle als unbesiegbar. Der Zaubertrank des Druiden Miraculix verleiht ihnen übernatürliche Kräfte. Eigentlich kann diesen Galliern also nichts passieren. Angst haben sie trotzdem. Nämlich davor, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen.

 

Eine ziemlich unrealistische Angst. Auch Hausspinnen trachten niemandem nach dem Leben. Trotzdem leiden zehn Prozent der Menschen an Spinnenphobie. Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Opfer eines Terroranschlages zu werden, ist laut dem renommierten Angstforscher Borwin Bandelow von der Universität Göttingen gering. Bandelow hat das Risiko kürzlich auf eins zu 27 Millionen beziffert. Selbst die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, ist laut dem Psychologen Bandelow höher als das Risiko, bei einem Terroranschlag zu sterben.

Trotzdem fürchten sich die Deutschen laut einer kürzlich veröffentlichten Allensbach-Umfrage vor nichts so sehr wie vor Terroranschlägen, steigender Kriminalität und wachsenden Flüchtlingszahlen. Und eine Studie der R+V Versicherung kommt zu dem Ergebnis, das Sicherheitsempfinden der Menschen nehme ab.

Angst orientiert sich nicht an Statistiken

Anschläge, Flüchtlingskrise und jetzt auch noch ein unberechenbarer US-Präsident: Überall lauern Gefahren! So glauben wir. Das zu denken, beeinflusst die Gefühle und das Verhalten vieler Menschen. Warum fürchten wir uns vor Dingen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass sie für uns bedrohlich werden, eigentlich so gering ist?

Angst interessiert sich nicht sonderlich für Statistiken. Laut Borwin Bandelow ist es normal, dass wir in erster Linie vor nicht alltäglichen Risiken Angst haben. An die Gefahren, denen wir ständig ausgesetzt sind, haben wir uns gewöhnt. Was neu ist, erscheint uns unbeherrschbar. „So wie die Terroranschläge schätzen wir diese Gefahren automatisch zu hoch ein“, sagt Bandelow. Unser Gehirn hat keine Erfahrungswerte, wenn es um neue, angstmachende Situationen geht. Wir wissen nicht, ob wir die Gefahr bewältigen können.

Zeiten der Veränderung ziehen uns den Boden unter den Füßen weg. Das kann ein harmloser Umzug, eine neue Arbeitsstelle oder bei Kindern der erste Schultag sein. Größere Veränderungen, die wir nicht selbst gewollt haben, verursachen noch mehr Ängste – wie etwa Trennungen oder der Verlust des Arbeitsplatzes. In solchen Momenten inszeniert unser Gehirn Szenarien, was alles noch geschehen könnte. Insgeheim wissen wir natürlich, dass die wenigsten Befürchtungen eintreffen werden. Doch in ungewissen Situationen nehmen häufig die Gefühle überhand, der Verstand schaltet sich ab. „Unser Vernunfthirn weiß Bescheid, nur unser Angsthirn ist einfach gestrickt“, sagt Borwin Bandelow.

Paradoxe Ängste

Jeder zehnte Deutsche leidet an Ängsten, jeder zwanzigste sogar an lebenseinschränkenden Ängsten und Phobien, schreibt der Psychologe und Autor Wolfgang Schmidbauer in seinem Buch „Lebensgefühl Angst – Jeder hat sie, keiner will sie“. Gibt es heute tatsächlich mehr Gefahren? Kriminalitätsstatistiken sprechen eine ganz andere Sprache. „Aber die Flüchtlinge, Silvester in Köln, dann Ansbach, München und Berlin – da muss man doch Angst haben,“ schreiben manche in sozialen Netzwerken. Oder auch: „Deutschland muss wieder sicher werden“.

Das erscheint paradox. Wir leben in einem der sichersten Länder dieser Erde, in einem demokratischen Land mit freien Wahlen, Gewaltenteilung, einer unabhängigen Presse und Freiheiten, von denen Menschen in Entwicklungsländern nur träumen können. Krieg, Vertreibung, Naturkatastrophen und Hungersnöte sind den meisten Ländern in Europa längst fremd. Noch nie haben die Menschen in Deutschland über einen so großen Zeitraum hinweg in einer Phase des Wohlstandes, des Friedens und der Sicherheit gelebt.

Trotzdem sind wir ängstlich. Wolfgang Schmidbauer spricht von einer „Generation Angst“. Die Ursachen sind aus seiner Sicht allerdings andere als die vermeintlichen Bedrohungen: „Noch nie hatten so viele Menschen so viel zu verlieren.“ Deshalb versuchten wir, uns zu schützen. Wir seien gegen Einbruch, Diebstahl, Krankheiten und Unfälle versichert, sogar gegen den Verlust der Zahnprothese. „Merkwürdigerweise laufen wir aber missmutiger durch die Straßen als die Armen im Jemen oder in Brasilien“, sagt Schmidbauer.

Angst kann auch beflügeln

Angst ist ein unangenehmes Gefühl. Sie lässt uns zittern, verursacht Schweißausbrüche, Herzrasen, Schwindel und Übelkeit, nachts kann sie uns den Schlaf rauben. Dabei ist Angst für sich genommen gar nicht gefährlich. Angst ist ein Gefühl, keine Realität. Und sie ist biologisch sogar sinnvoll. Sie beschützt uns vor Gefahren und treibt uns auch zu Höchstleistungen an. „Sie hat wie der Hunger und die Liebe, ihre Gestalt und ihre Zeit“, sagt Wolfgang Schmidbauer. „Sie kann zwar nicht von einem kleinen Kind, in der Regel aber von einem einsichtigen Erwachsenen bewältigt werden.“ Denn obwohl es, wenn gefürchtete Situationen oder Ereignisse bevorstehen, schwer zu glauben sein mag, Angst beflügelt uns auch. Zu wenig Angst macht uns träge und antriebslos. Zu viel hingegen blockiert uns, macht uns ungeschickt und zerstört die Lebensfreude. Geben wir den furchteinflößenden Gedanken zu großen Raum in unserem Leben, denken wir irrational, fangen an zu pauschalisieren. Auf einmal sind dann alle Flüchtlinge böse, Reisen wird zur Gefahr, weil überall Terroranschläge lauern. Wir fangen an, Furcht einflößende Situationen zu vermeiden.

Doch nicht immer muss die zeitweise Vermeidung schlecht sein, sagt der Soziologe Heinz Bude. Der Autor des Buches „Gesellschaft der Angst“ hält es nicht für schädlich, wenn Menschen aus Angst vor Anschlägen im Zug eine Zeit lang nicht mehr ICE fahren. „Jeder reflektiert für sich selbst ohnehin irgendwann, ob er durch die Vermeidung in seinem Leben gewinnt oder nicht.“ Entscheidet man sich dafür, dass die fehlende Lebensqualität größer ist als die Angst, setze man sich von selbst wieder in den Zug. „Nach ein paar Sekunden ist die Angst meistens verschwunden“, sagt Heinz Bude. Viel gefährlicher als die Angst selbst ist nach Wolfgang Schmidbauer demnach eine „erstarrte Form“, sie abzuwehren und sie zu verleugnen: „Vor allem die Suche nach einer angstfreien Welt, die uns und anderen garantiert angstfreie Räume verheißt, und der Wunsch, dies mit aller Gewalt zu verwirklichen ist gefährlich.“

Frust und negative Gefühle

Angst verleitet viele dazu, denjenigen zu vertrauen, die schnelle Hilfe und einfache Lösungen versprechen. „Statt dass der Anruf an sich selbst geprüft wird und erlebt würde, werden dann einfach ideologische Systeme übernommen“, schreibt die Schweizer Psychologie-Professorin Verena Kast in ihrem Buch „Vom Sinn der Angst“. „Je weniger diese Systeme der Komplexität des Lebens gerecht werden, dafür aber einfach und eingängig sind, und je mehr sie mit aggressiven Parolen kombiniert werden, um so mehr scheinen sie einzuleuchten, um so leichter verfallen Menschen, die in Angst sind, diesen Parolen.“ Die Suche nach Sicherheit verdrängt dabei das menschliche Bedürfnis nach einem freiheitlichen und eigenständigen Leben. „Mit Angst kann man Menschen hervorragend manipulieren, sie politisch dahin bringen, wo man sie haben will“, sagt Verena Kast.

Hinter der Furcht vor Flüchtlingen steckt natürlich häufig die Angst vor dem Fremden, dem Neuen oder dem Verlust des eigenen Wohlstandes. „Man fokussiert sich auf die, die neu sind, die machen das Leben ja noch einmal komplizierter und unangenehmer, dabei haben wir doch selbst schon genug zu tun“, sagt Heinz Bude.

Wovor haben wir Angst?

Viele Ängste wurzeln in Wahrheit in den eigenen negativen Gefühlen, Frustrationen und narzisstischen Kränkungen, also in uns selbst. Daher ist es sinnvoll, sich zu hinterfragen. Viele Menschen tendieren unbewusst dazu, ihre Ängste auf etwas Naheliegendes, Konkretes zu projizieren. Wir halten es schlecht aus, nicht zu wissen, wovor wir Angst haben. Bei einer Spinnenphobie ist selten wirklich die Spinne die Ursache der Angst, sondern nur der Auslöser. Und wer Angst vor Flüchtlingen und Terror hat und vom Staat erwartet, dieses Problem zu lösen, gibt die Verantwortung über seine eigenen Gefühle ab und macht sich zum Opfer der Umstände. Das ist einfach und bequem. Schuld an allem sind dann die Politiker, die Medien oder die Flüchtlinge.

Der Politologe Manfred Schmidt hat jüngst 2016 als „das Jahr der Ängste“ bezeichnet. Heinz Bude meint hingegen, es gebe schon länger eine „grundsätzliche Angst-Disposition“. Denn: „Anstrengen allein reicht heute nicht mehr.“ Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer führt das noch weiter, er geht davon aus, dass „eine Zunahme menschenfeindlicher Einstellungen und Verhaltensweisen davon abhängt, inwieweit immer mehr Menschen in unsicheren Arbeits- und Lebensverhältnissen, in politischen Ohnmachtsempfindungen und instabilen emotionalen Situationen stecken.“

Den Umgang mit der Bedrohung lernen

Der „Geo“-Redakteur Bertram Weiß kam kürzlich in seinem Essay „Das rettende Gefühl“ zu der Auffassung, die wachsende Angst in unserer Gesellschaft liege auch darin begründet, dass sich heute viele Menschen zu häufig in Situationen befinden, die zwar „eine Angstreaktion auslösen, denen sie aber weder durch Kampf noch durch Flucht entkommen können“. Er nennt Probleme am Arbeitsplatz wie Mobbing, ein zu hohes Arbeitspensum oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Jeden Tag müsse man wieder an den Arbeitsplatz zurück, die Angst nehme also nicht ab. Die ständige Furcht führe dann zu Dauerstress. Stress ist der Angstauslöser Nummer eins.

Eine Angst, die keine Auflösung findet, wird immer stärker. Die Psychiaterin Verena Kast rät zu mehr Konfrontation: „Wir müssen unsere Ängste besser nützen. Wir müssen aufhören, uns kontraphobisch zu verhalten, in der Hoffnung, dass wir, wenn wir uns unseren Ängsten stellen, auch sehr viele eher Kompetenz im Umgang mit dem Bedrohlichen und der Hilflosigkeit entwickeln.“ Wer genau weiß, wovor er sich fürchtet, hat es leichter, glaubte auch die Physikerin Marie Curie: „Man muss vor nichts im Leben Angst haben, wenn man seine eigenen Ängste kennt.“