Resilienz Wie man Krisen besser meistert

Psychische Widerstandsfähigkeit - oder Resilienz - kann man ein Stück weit lernen. Foto: Imago/Westend61

Aus unserem Plus-Archiv: Manche wirft die kleinste Krise aus der Bahn, anderen scheint auch ein herber Schicksalsschlag nichts anhaben zu könne. Resilienz lässt sich ein Stück weit lernen, aber unsere Widerstandsfähigkeit hat auch Grenzen.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Endlich Zeit für Power-Yogasessions, endlich Chinesisch lernen und jeden Tag frisches Biogemüse essen. Derart haben sich viele zu Beginn der Corona-Pandemie ihre Krisenstrategie zurechtgebastelt. Nur im Bett liegen und Netflix schauen nach Feierabend? So überlebt man heutzutage keine Krise mehr. Manche haben jedoch unterschätzt, was es mit uns macht, wenn das bisherige, gewohnte Leben plötzlich von heute auf Morgen auf den Kopf gestellt wird. Die Welt befindet sich seit Monaten in der Krise. Unser Alltag? Geprägt von maximalem Kontrollverlust. Existenzängste wechseln sich mit der Angst zu erkranken, der Angst vor Einsamkeit oder der Angst, die Arbeit, den Haushalt und die Kinder nicht mehr gestemmt zu kriegen, ab. Zu der großen, kollektiven Krise kommen bei jedem die vielen kleinen Krisen hinzu.

 

Machen Schicksalsschläge wirklich stärker?

Im Laufe unseres Lebens müssen wir viele Krisen überwinden. Scheidung, Tod eines geliebten Menschen, Jobverlust – im ersten Moment zieht uns das den Boden unter den Füßen weg. Oft dauert es Monate, gar Jahre, um wieder in ein Leben ohne psychischen Ausnahmezustand zurückzukehren. Aber Krisen machen uns doch stärker – so ein weit verbreiterter Glaube. Doch stimmt das überhaupt? Oder ist der alte Spruch des Philosophen Friedrich Nietzsche „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ völlig falsch? Manche Menschen zerbrechen an Krisen und kämpfen dann mit Depressionen, Ängsten oder gar posttraumatischen Belastungsstörungen.

Und dann gibt es die anderen. Sie scheinen mit einer dicken Elefantenhaut auf die Welt gekommen zu sein. Nichts kann sie erschütternd. Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton wurde als Kind von seinem aggressiven Stiefvater mit dem Revolver bedroht. Die Hollywood-Legende Greta Garbo war Halbwaise und arbeitete zeitweise als Einseiferin beim Friseur. Und der Schauspieler Arnold Schwarzenegger, der „Terminator“, ist mit einem prügelnden Vater aufgewachsen. Später wurde er Gouverneur von Kalifornien. Clinton, Garbo, Schwarzenegger – sie alle eint, dass sie sich trotz eines schweren Starts im Leben nicht haben unterkriegen lassen. Wir bewundern solche „Stehaufmännchen“ – weil wir alle gerne so wären.

Die Fähigkeit, Krisen ohne psychischen Schaden zu überwinden, nennt sich Resilienz

Märchen und Mythen sind voll mit „Erfolgstypen“ wie zum Beispiel Oliver Twist oder dem Waisenkind Harry Potter. Von der Stieffamilie diffamiert, gedemütigt und in einer Schrankwand unter der Treppe sein Dasein fristend, schafft es der kleine Zauberer, die Personifizierung des Bösen, Lord Voldemort, zu besiegen und am Ende ein glückliches Leben zu führen.

Die Fähigkeit, Krisen ohne psychischen Schaden zu überwinden, nennt sich Resilienz – und man kann sie lernen. Der Begriff stammt aus der Werkstoffphysik und bezeichnet die Eigenschaft elastischen Materials wie Gummi, nach Momenten extremer Spannung unversehrt zurückzuschnellen. Psychologen, Genetiker, Neurowissenschaftler und Verhaltensforscher beschäftigt seit Jahrzehnten, was das Wesen der Widerständigen ausmacht. Was haben diese Menschen, dass sie aus der schlimmsten Misere wie Phönix aus der Asche wiederaufsteigen?

Wie robust wir sind, ist keine Veranlagung

Wie robust jemand ist, hat, das wissen Forscher heute, weniger mit unseren Genen zu tun. Fähigkeiten, um Krisen besser auszuhalten, lassen sich trainieren. Das Wort „Krise“ entstammt einem Verb aus dem Altgriechischen, das so viel bedeutet, wie „entscheiden“: „Eine Krise birgt die Möglichkeit, dass sich alles zum Schlimmeren entwickelt – oder zum Guten wendet. Leider vergessen wir das im Alltag viel zu schnell und glauben, jede Krise sei eine Katastrophe, alles sei verloren“, schreibt Sigrun-Heide Filipp in der Zeitschrift „Geo“. Es gebe zwei Wege: den der Verzweiflung oder jenen, der einen neuen Blick auf das Leben ermögliche.

Doch wie bekommt man diesen „neuen Blick“? Der Neurowissenschaftler Raffael Kalisch beschäftigt sich am Zentrum für Resilienzforschung in Mainz damit, was Menschen in aktuellen Krisensituationen Halt gibt und widerstandsfähig macht. Die Forschung sei noch uneins, welches Zusammenspiel an Fähigkeiten und Kompetenzen einen Menschen resilient macht, betont Kalisch. Aber, so viel sei klar: „Resilienz ist kein Schicksal, sondern mehr ein Bewertungsstil“, schreibt er in seinem Buch „Der resiliente Mensch“.

Teure Wochenendkurse versprechen uns eine robuste Seele

Findige Unternehmen und Coaches haben dies seit Jahren erkannt und bieten sündhaft teure Wochenendseminare an, in denen Menschen in zwei Tagen fix lernen sollen, besser mit ihren Krisen umzugehen – oft aber sind das nur hehre Versprechungen. Denn so einfach funktioniert das natürlich nicht. Einmal erlernte Verhaltensmuster umzuprogrammieren ist ein langwieriger, mühevoller Prozess, den viele gar nicht alleine bewältigen können, sondern dazu vielleicht Hilfe eines Psychotherapeuten oder Coaches benötigen.

Diese Pseudoprogramme sieht Raffael Kalisch deshalb kritisch. Zwar litten rund 30 Prozent der europäischen Bevölkerung bereits an stressbedingten psychischen Erkrankungen. „Aber sollte man nicht besser den Stress reduzieren, als die Menschen noch stressresistenter zu machen?“ Resilienz ist kein Allheilmittel gegen strukturelle Widrigkeiten. Hingegen ist Kalisch überzeugt, dass eine erfolgreich angewandte Resilienzforschung die Erkrankungszahlen reduzieren könne und Menschen mehr Selbstentfaltung ermögliche, indem sie ihnen unnötige Ängste nehme. Denn einen Großteil unseres täglichen Stresses produzieren wir selbst in unserem Kopf. Oft sind das Automatismen, die wir von klein auf erlernt haben, für die wir oft also gar nichts können.

Resilienz ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine Aktivität

Resilienz sei in gewisser Weise eine Form der Aktivität, keine konstante Charaktereigenschaft, sagt Kalisch. Das Stehaufmännchen ist also ein Mythos. So hätten resilientere Menschen ein neuronales Belohnungssystem, dass in stressigen und immens belastenden Situationen noch Aktivität zeige. „Bei Ungewissheit neigen solche Menschen nicht zum Schwarzsehen, sondern nehmen einen positiven Verlauf der Dinge an“, schreibt Kalisch. Wer also glaubt, er hat sein Schicksal in Teilen selbst in der Hand, fühlt sich weniger ausgeliefert. „Resilienz ist keine geheimnisvolle Kraft, sondern ein komplexer psychischer Mechanismus, der sich aus vielen Faktoren zusammensetzt“, ergänzt er.

Wie unterschiedlich Menschen auf Krisen reagieren, zeigt die Corona-Pandemie schonungslos. Während alle damit beschäftigt sind, ihren Alltag irgendwie zu bewältigen, rutschen manche regelrecht ab. Sie hängen Verschwörungsmythen nach, glauben an Mächtige, die im Hintergrund die Fäden ziehen oder uns alle zwangsimpfen wollen. Sie projizieren das Elend auf andere und suchen nach einem Sündenbock. Resilient zu sein heißt aber, eine „Selbstwirksamkeitserwartung“ zu haben, wie Kalisch es nennt. „Man sucht in der Krise nicht nach einem Schuldigen, sondern nach einem Ausweg.“

Weltuntergangsszenario oder Hoffnung? Es hängt von der Bewertung ab!

Wichtig ist tatsächlich die Bewertung einer Situation: „Resiliente Menschen neigen nicht zum Katastrophieren“, schreibt Kalisch. „Sie malen sich nicht nach Kräften aus, was alles schiefgehen könnte. Und damit ersparen sie sich sehr viel Stress.“ Starker, dauerhafter Stress belastet aber nicht nur unsere Psyche, sondern unseren ganzen Organismus enorm. „Resilienz ist quasi die gelungene Abwehr einer drohenden Stresserkrankung.“

Übrigens gehen Krisen auch an psychisch tendenziell starken Menschen nicht komplett vorbei. Die US-Psychologin Emmy Werner hat in einer Langzeitstudie den Werdegang von 700 hawaiianischen Kindern über drei Jahrzehnte hinweg untersucht. Die Kinder wuchsen teils in prekären Verhältnissen auf, wurden vernachlässigt, teils misshandelt, hatten kaum etwas zu essen. Das prägte ihr Leben als Erwachsene: Sie tranken Alkohol und waren verhaltensauffällig. Allerdings schaffte es ein Drittel dieser Kinder, ihren schlechten Start ins Leben zu überwinden. Sie hätten sich zu „angesehenen Mitgliedern der Gemeinde entwickelt“ und studiert. Werner nannte diese Kinder „verletzlich, aber unbesiegbar“. Was war der Unterschied zu den anderen Kindern? Oft hatten sie genau eine Person im Leben, die sie unterstützt und an sie geglaubt hatte. Das müssen nicht die Eltern sein, oft könne dies ein Verwandter, ein Geschwisterkind oder ein Lehrer sein, so Werner.

„Die Kindheit ist nicht alles.“ Zu dem Schluss kommt auch die Biochemikerin und Autorin Christina Berndt in ihrem Buch „Resilienz. Das Geheimnis psychischer Widerstandskraft“. „Menschen können seelische Stärke auch noch später im Leben erwerben. Denn die Persönlichkeit ist nicht in Stein gemeißelt.“ Kalisch nennt zudem noch drei erbliche Faktoren, die uns stärker machen können: Intelligenz, Extraversion und Optimismus. „Die Gene sind aber nur die Bühne, auf der der Mensch tanzen kann“, schreibt Berndt.

Wir brauchen andere Menschen – auch körperliche Nähe

Extrovertierte Menschen sind oft besser in der Lage, ein tragfähiges, soziales Netz aufzubauen. Wir brauchen andere Menschen und auch körperliche Nähe, um psychisch gesund zu bleiben. Andere zu umarmen, zu küssen ebenso wie mit ihnen zu lachen und, ja, auch zu lästern hilft uns immens in schweren Zeiten. Deswegen auch machen vielen die Kontaktsperren in der Corona-Zeit so zu schaffen. Auf Abstand gehen zu müssen – das können wir nur eine gewisse Zeit überbrücken. „Das soziale Umfeld macht sehr viel aus“, schreibt Kalisch. „Die Fähigkeit, Unterstützung anzunehmen, hilft uns.“ Resiliente Menschen wissen, dass sie nicht alles alleine schaffen.

Die seelische Widerstandsfähigkeit hat aber auch Grenzen. Der amerikanische Forscher Mark Seery untersuchte in seiner Studie „Whatever does not kill us“ genau das und kam so auf den „Stahlbad-Effekt“: Menschen, die in der Vergangenheit ein paar schwerwiegende Krisen erlebt hatten, seien später psychisch gesünder, weniger gestresst und zufriedener in ihrem Leben. Mehr als circa vier schwere Krisen aber, wie zum Beispiel der Verlust eines geliebten Menschen oder eine schlimme Erkrankung, könne kaum ein Mensch verkraften. Der Stahlbad-Effekt verkehre sich dann ins Gegenteil. Selbst der Stärkste kann also nicht endlos Schicksalsschläge verkraften.

Eine Krise ist nicht immer eine Chance – aber sie verändert den Blick auf unser Leben

Überdies ist eine Krise auch nicht zwangsläufig eine Riesenchance – doch lernen wir uns selbst in schweren Zeiten besser kennen. Oft verändert eine Krise den Blick auf unser eigenes Leben. Was brauchen wir wirklich? Freunde, Natur, Musik, Religion und Glaube, Sport – in psychischen Ausnahmezuständen sind wir gezwungen herauszufinden, was uns guttut, während wir es uns in guten Zeiten oft gemütlich in unserer Komfortzone einrichten. Denn um mit Stress besser umgehen zu können, müssen wir uns dem Stress – zwangsläufig – aussetzen. In Notsituationen können wir erkennen, was tatsächlich in uns steckt. Allerdings zeigt sich das eben leider oft erst im Nachhinein. In der akuten Situation hilft oft nur Akzeptanz und die Erkenntnis, dass wir gerade nicht alles schaffen. Und dass es okay ist, den Chinesisch-Kurs auf später zu verschieben – und nur Netflix zu schauen.

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