Psychologie Hochsensible sind mehr als zart besaitet

Menschen mit extrem empfindlichen Nerven gelten häufig als hysterisch, dabei sind sie nur hochsensibel. Selbstbewusstsein hilft.
Stuttgart - Dumpfe Bassschläge aus dem Kopfhörer des Sitznachbarn, Handyklingeln, gleißendes Deckenlicht, ein schreiendes Baby - was für die einen nach einem ganz normalen Weg mit der Bahn zur Arbeit klingt, erleben manche Menschen als puren Stress. Schon nach wenigen Stunden im öffentlichen Leben fühlen sie sich ausgelaugt und müde. Ihre Reaktionen rufen bei anderen oft Verwirrung und Unverständnis hervor. "Du bist aber empfindlich!" Dabei sind sie doch nur, was sie sind: hochsensibel.
Hochsensible haben von Geburt an ein besonders empfindsames Nervensystem, das permanent auch kleinste Details aufnimmt und weiterleitet. Dadurch nehmen Hochsensible nicht nur mehr Information auf als andere, sondern empfinden diese zugleich intensiver. Ähnlich wie bei einem Computer, der umso mehr Leistung erbringen muss, je größer die Menge an zu verarbeitenden Daten ist, können sich Hochsensible durch die Informationsflut schnell überansprucht fühlen. Dann verspüren sie ein verstärktes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe, denn die Verarbeitung kostet Zeit und Kraft.
Das Phänomen, dass einige Menschen sensibler auf Reize reagieren als andere, wurde zum ersten Mal von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron benannt. In ihrer 1996 veröffentlichten Arbeit prägte sie für hochsensible Menschen den Begriff der hochsensiblen Personen (HSP). Aron schätzt die Zahl der Betroffenen anhand von Telefonbefragungen auf 15 bis 20 Prozent aller Menschen. Dabei wissen nach Aron nur wenige um ihre Veranlagung.
Ein Fragebogen im Internet gibt Hinweise
Hochsensible werden häufig für schüchtern, zurückhaltend oder perfektionistisch gehalten. Dabei zeichnen sie sich ebenso durch eine rasche Auffassungsgabe aus - und "haben oft viele Talente und ein breites Interessenspektrum", sagt Ulrike Hensel, die Beratungsgespräche für Hochsensible anbietet. Sie beschreibt diese Menschen als gute Zuhörer, die kleinste Details erhaschen, welche anderen verborgen bleiben. Außerdem wollen sie mehr als andere "einen Beruf, der ihnen sinnvoll erscheint und der ihren Wertvorstellungen entspricht", so die Beraterin. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum Hochsensible sich oft in sozialen, ehrenamtlichen und künstlerischen Berufen wiederfinden.
Auf der Internetseite der österreichischen Gesellschaft zur Förderung und Pflege der Belange hoch empfindlicher Menschen steht ein Fragebogen zur freien Verfügung, der bei der Selbsteinschätzung helfen kann. Die überwiegende Bestätigung von Aussagen wie "Von intensiven Außenreizen fühle ich mich leicht überwältigt", "Ich scheine schmerzempfindlich zu sein" oder "Ich habe ein reiches, vielschichtiges Innenleben" soll als Indikator gelten.
Zum Problem wird die Sensibilität erst dann, wenn die Betroffenen das Gefühl haben, "nicht in Ordnung zu sein", beschreibt Georg Parlow in seinem Buch "Zart besaitet - Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen". Dies wird durch Reaktionen von außen bestätigt, die Hochsensiblen attestieren, neurotisch oder zimperlich zu sein. Um nicht anzuecken, "passen sie sich schon in früher Kindheit an und lernen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen", sagt Rolf Sellin von seinem selbst gegründeten HSP-Institut Stuttgart.
Chance für Hochsensible in der Selbständigkeit
Wie die Berater bestätigen, bereitet die erhöhte Wahrnehmung vor allem im Arbeitsalltag Schwierigkeiten. In vielen Unternehmen herrschen für Hochsensible belastenden Umstände, wie zum Beispiel ein hoher Geräuschpegel in Büros. Die Angst um den Arbeitsplatz oder vor Diskriminierung durch Kollegen können Gründe sein, die eigene Wahrnehmung zu unterdrücken. Dies führe schließlich zu Selbstentfremdung und Frustration, berichten die Berater. Chronische Krankheiten oder Burn-out können die Folge sein. Ulrike Hensel sieht daher eine Chance für Hochsensible in der Selbständigkeit.
In den Seminaren von Rolf Sellin lernen die Teilnehmer Techniken, um die Wahrnehmung verschiedener Reize durch bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit selbst zu bestimmen. "In Kontakt bleiben mit sich selbst", lautet Sellins Formel, durch welche die Hochsensiblen ihre persönlichen "Wohlfühlgrenzen" erkennen, einhalten und Stück für Stück ausdehnen sollen. "Sie müssen lernen, sich zu zentrieren, damit sie energetisch nicht ausbluten", so der studierte Architekt.
Die Berater sind sich einig, dass die Einstellung zu sich selbst ein wichtiger Schlüssel ist, die Hochsensibilität als Bereicherung erfahren zu können. Alexander Bertrams von der Universität Mannheim, der sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, plädiert jedoch dafür, Hochsensibilität als "Variation des Normalen" zu betrachten. Es sei nicht damit getan, sich das Label "hochsensibel" anzuheften und dann in einer "Opferrolle" auszuruhen. Stattdessen empfiehlt Bertrams, aktiv nach Lösungsansätzen zu suchen und den Lebensstil entsprechend zu ändern, wenn man mit der Flut der Eindrücke nicht mehr zurechtzukommen glaubt.
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