Wohlbefinden, Freudestrahlen, Kreativitätsschübe und noch viel mehr Gutes liegen auf dem Weg, wenn man durch die Natur spaziert. Der Psychologe Fred Christmann schreibt dem Gehen nachgerade therapeutische Kräfte zu.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)
S-West - Das Gehen tut dem Menschen gut, davon ist Fred Christmann überzeugt – als Privatmann und als Psychologe. In der von ihm geleiteten Stiftung Psyche bietet er Stadtspaziergänge und einen Rundgang um Stuttgart an, die sowohl informativ sind als auch als Selbsterfahrungen ermöglichen.
Herr Dr. Christmann, wie sind Sie berufshalber als Psychologe auf das Thema Zu-Fuß-Gehen gestoßen?
Wenn man sich als Therapeut das Leid der Leute anhört, sucht man nach Möglichkeiten, ihre Ressourcen zu aktivieren, damit sie mehr machen aus ihrem Leben. Das Zu-Fuß-Gehen ist da eine gute Methode – es kostet nichts, und jeder kann es praktizieren. Es spricht alle Sinne an und ermöglicht eine körperlich-geistige Aktivierung.
Was bewirkt das Gehen?
Das Zu-Fuß-Gehen ist eine dem Menschen besonders angemessenes Form der Fortbewegung, bei dem sich die Umgebung in angenehmem Tempo verändert. Unseren Sinnen werden ständig neue Eindrücke geboten. Selbst wenn wir immer die gleiche Strecke gehen, ergibt sich durch die Veränderungen des Wetters und der Jahreszeiten und durch die Begegnung mit Menschen und Tieren immer wieder Neues, das uns stimuliert. Wir werden angeregt aber nicht überreizt. Denn bei zu vielen Reizen fühlen wir uns schnell unwohl.
Demnach besteht ein Unterschied darin, ob ich durch die Stadt flaniere oder im Wald spazieren gehe.
Unbedingt! Studien belegen, dass der Erholungswert in der Natur ein viel höherer ist. Nach einer Mittagspause im Grünen sind die Menschen wesentlich leistungsfähiger als nach einem Spaziergang durch die Stadt. Das hängt mit der Dosierung der Reize zusammen. In der Natur werden alle Sinne angesprochen aber nicht überflutet. Hier behalten wir mühelos die Kontrolle darüber, was wir in welcher Intensität wahrnehmen wollen. Und Kontrolle ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Wenn ich einem Vogel lauschen will, dann bleibe ich stehen, wenn mir etwas unangenehm ist, beschleunige ich meinen Schritt. In der Stadt werden einem Seheindrücke, Geräusche, Gerüche und sogar das Schritttempo aufgedrängt.
Also ist es für unsere Psyche am besten, wenn alles ruhig und ereignislos vor sich hin plätschert?
So ist es ja gar nicht. Ob in der Stadt oder in der Natur: Wir erleben immer wieder Zufallsereignisse. Ich habe zum Beispiel neulich auf meinem Spaziergang einen Feuersalamander entdeckt. Und einmal stand an einem nebligen Morgen die Sonne knallrot am Himmel. Solche Erlebnisse lösen in uns ein regelrechtes Glücksempfinden aus.
Hilft Spazierengehen beim Nachdenken?
Das hat jeder selbst in der Hand. Man kann entweder seinen Gedanken nachhängen oder man entscheidet sich für eine achtsame Form des Gehens, bei der man sich auf die Dinge einlässt, die einem begegnen. Wenn Gedanken belastend sind, sollte man versuchen, sie loszulassen, den Atem vertiefen und sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Man gerät dann in eine andere Stimmung und erhält Zugang zu anderen Denkmustern und zu seiner Kreativität. Das wiederum kann bei der Lösung jener Probleme helfen, die man zuvor in seinem Kopf herumgewälzt hat.
Die Stiftung Psyche bietet regelmäßig thematische Stadtspaziergänge an. Welche Erfahrung machen die Teilnehmer auf dem Weg?
Auf unseren Touren geht es immer mal wieder einen Berg hinauf – zur Villa Weißenburg oder zum Monte Scherbelino zum Beispiel. Das bedeutet körperliche Anstrengung und den eigenen Körper zu spüren. Es bedeutet aber auch, wenn man oben steht, einen Überblick zu bekommen, aus einer gewissen Distanz das große Ganze zu sehen. Die Topografie in Stuttgart bietet hier unzählige Möglichkeiten. Der Blick von oben auf die Stadt ist im Grunde auch eine Art Denkübung. Man kann sie auf andere Lebensbereiche übertragen.
Wie viel Kondition ist für ihre Touren nötig?
Es reicht jedem die Kondition, die er mitbringt. Zu unseren Veranstaltungen gehört ja auch die Marathonwanderung einmal im Jahr, bei der wir die Stadt umrunden. Wir gehen morgens los und kommen abends zurück, 60 Kilometer. Aber wer will, hat an vielen Stellen die Möglichkeit, abzubrechen und in die Bahn zu steigen. Die meisten Teilnehmer glauben nicht, dass sie die ganze Runde schaffen. Viele von ihnen meinen, dass sie nach etwa 20 bis 30 Kilometern ermüden.
Und am Schluss der Wanderung sind Sie in schöner Regelmäßige der Einzige, der noch übrig ist?
Nein. Die Teilnehmer gehen weiter bis zur nächsten Option, auszusteigen. Dort entscheiden sie dann, bis zu nächsten zu gehen und immer so weiter bis zum Schluss. Nur ganz selten, etwa wegen Blasen an den Füßen, steigt jemand vorzeitig aus. Fast alle gehen bis zum Ende mit. Dies zeigt, wie sehr die Motivation unser Verhalten bestimmt. Die Teilnehmer haben ihre innere Grenze überwunden, sie wollten über sich hinauswachsen und sie sind schließlich über sich hinausgewachsen.
Große Strecken zu überwinden ist also nur eine Frage des Wollens?
Ja. Jeder von uns hat so ein Limit im Kopf. Das liegt beispielsweise bei 30 Kilometern. Die Leute werden dann tatsächlich müde und brechen ab. Ihre Überzeugung, dass sie nicht mehr schaffen, bestätigt sich. In Wirklichkeit könnten sie aber noch viel weiter gehen. Durch ihre imaginäre Grenze aber haben sie sich selbst ausgebremst. Physisch ist fast jeder in der Lage, große Strecken zu absolvieren. Der Mensch ist zum Laufen gemacht. Doch unser Leben steckt voller selbst auferlegter Limitierungen, die uns einschränken. Aber wer seine Grenze überwindet, der kann richtig viel schaffen. Und Sie glauben gar nicht, wie glücklich und stolz das macht!