Die Weisheit der Massen wird oft überschätzt, denn das Prinzip funktioniert nur in wenigen Fällen. Bei kniffligen Aufgaben braucht man kompetente Experten.

Stuttgart - Wenn es um Schätzungen geht, liegen Menschen in der Regel weit daneben. Der Durchschnitt aller Schätzungen einer Gruppe kommt dem tatsächlichen Wert hingegen oft sehr nahe. Der Soziologe Dirk Helbing von der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich hat seine Studenten zum Beispiel gebeten, die Einwohnerdichte der Schweiz zu schätzen. Die Schätzungen einer Gruppe von einem Dutzend Probanden lagen zwischen 2 und 1070 Einwohnern pro Quadratkilometer. Der Durchschnitt von 198 lag jedoch nur ein paar Zähler über dem tatsächlichen Wert.

 

Solche Leistungen werden zuweilen als Beispiel für Schwarmintelligenz angeführt. Wenn jeder seinen Senf beiträgt, erreicht die Gruppe zuverlässig ein besseres Ergebnis, als es ein Einzelner erreicht hätte. Doch Helbings Experiment ging weiter. Er nannte jedem Versuchsteilnehmer die Zahlen der anderen elf Probanden der Gruppe und bat um eine erneute Schätzung der Einwohnerdichte. Im zweiten Durchgang fiel der Durchschnitt auf 94, etwa die Hälfte des tatsächlichen Werts. Nach sechs Durchgängen lag er bei 84. Nicht alle Gruppen lagen in Helbings Experiment am Ende so weit daneben, aber im Durchschnitt wurden die Gruppen im Laufe der sechs Durchgänge nicht besser.

Die Probanden sind sich ihrer Sache zu sicher

Schade eigentlich, lautete Helbings Fazit in den „Proceedings“ der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften. Wenn Menschen unabhängig voneinander ihr Urteil fällen, ist der Durchschnitt dieser Urteile ganz brauchbar. Doch wann kommt das im echten Leben außerhalb des soziologischen Labors vor? Und das Schlimme sei, dass sich seine Versuchspersonen im Laufe der sechs Durchgänge mit ihren Schätzungen immer sicherer wurden. „Die Weisheit der Massen ist für die Gesellschaft wertvoll, doch sie mehrfach zu nutzen erzeugt eine kollektive Überschätzung bei möglicherweise falschen Überzeugungen“, schreibt Helbing.

In der Psychologie wird die Kehrseite der Schwarmintelligenz Gruppendenken genannt und wurde erstmals am Beispiel der US-amerikanischen Außenpolitik beschrieben: Der Stab um John F. Kennedy ließ sich 1961 von Zweifeln und Einwänden nicht beirren und beschloss eine Invasion Kubas in der Schweinebucht.

Am Ende müssen die Vorschläge kompetent bewertet werden

Eine Gruppe kann Vorkehrungen treffen, damit sich ihre Mitglieder nicht gegenseitig in ihren falschen Ansichten bestärken. Dazu gehört, nicht jede Äußerung sofort zu kommentieren, und dazu gehört am Ende auch das Gegenteil: die guten Beiträge auszuwählen. Es ist schwer vorstellbar, wie das gelingen soll, wenn die Gruppenmitglieder so ahnungslos sind wie die Probanden in Helbings Experiment. Zum Bewerten der Optionen braucht man kompetente Menschen, und wenn nicht alle in der Gruppe kompetent sind, werden die wenigen Kompetenten Einfluss benötigen, damit die Gruppe ihr Ziel erreicht.

Nur wenn sich die Aufgabe in kleine Unteraufgaben aufteilen lässt, kann jeder auf eigene Faust loslegen. So ist zum Beispiel nach Plagiaten in Doktorarbeiten gesucht worden. Doch Fundstellen anzugeben zeugt noch nicht wirklich von Weisheit, auch wenn es viele sind.