Ebenezer Scrooge, der verhärmte alte Geldverleiher aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, ist das Sinnbild des egoistischen Geizhalses. Er tritt kaltherzig auf, kann den Sinn des Weihnachtsfestes, den Wunsch zu teilen und sich anderen gegenüber großzügig zu zeigen, nicht verstehen. Obwohl so reich, möchte er am liebsten alles für sich behalten. Eine literarische Figur, die nicht weit weg ist von der Wirklichkeit, in der 1,2 Prozent der Weltbevölkerung rund 47,8 Prozent des weltweiten Vermögens horten. Doch nicht nur Superreiche sind oft besonders knausrig, in allen Bevölkerungsschichten gibt es Menschen, die den Partner nicht mal vom eigenen Stück Kuchen probieren lassen, und andere, die sich ehrenamtlich in der Suppenküche engagieren, einen Teil ihres Gehalts spenden oder immer parat stehen, wenn Freunde Umzugshelfer suchen.
Wie prägen uns Mangelerfahrungen in der Kindheit?
Woher kommt das? Sind manche Menschen von Natur aus großzügiger – nicht nur finanziell, sondern auch sozial – und andere einfach geizig, weil sie im Elternhaus nichts anderes vorgelebt bekamen? Wie prägen Mangelerfahrungen in der Kindheit oder der Geiz der eigenen Eltern später das Verhalten von Erwachsenen? Ist vielleicht sogar biologisch angelegt, wer geizig wird und wer großzügig?
Anne Böckler-Raettig, Psychologieprofessorin an der Universität Würzburg, sagt: „Zwillingsstudien zeigen, dass der Einfluss der Gene nachweisbar ist.“ Eine genetische Komponente werde also angenommen, doch wie immer zähle auch das soziale Umfeld. Entscheidend ist, ob Kinder früh Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Zugewandtheit beobachten können. Studien zeigen, dass sich Menschen in allen Kulturen weltweit nie nur egoistisch verhalten: Sie teilen miteinander, viele sind Fremden gegenüber aufgeschlossen. Wie stark, das ist völlig unterschiedlich und abhängig von der kulturellen Prägung. Das bestätigt Böckler-Raettig: „Wer nur von Egoisten umgeben ist, kennt nichts anderes. Sowohl Großzügigkeit als auch Geiz sind ansteckend.“
Vor Hunderttausenden von Jahren hat sich evolutionär das durchgesetzt, was zum Überleben beigetragen hat. Urgeschichtlich betrachtet waren der Schutzraum und die Ressourcen für Einzelne stets begrenzt. Jeder musste aufpassen, dass er satt wird. Weil er innerhalb einer Gruppe aber zum Überleben immer auch auf andere angewiesen war, musste er auch dafür sorgen, dass andere satt werden. So entstanden Fähigkeiten zu kooperieren, sich geschickt zu verhalten, glauben Forscher. Das hat zu einem als großzügig geltenden Wesenszug geführt, der sich evolutionär genauso durchsetzen konnte wie der Geiz, also der Drang der Menschen, egoistisch zu handeln.
Der Einfluss der Umgebung kommt ins Spiel
Die Folgen sind schon bei den Kleinsten zu beobachten. Kinder zeigten von sich aus sehr früh sowohl hilfsbereites als auch egoistisches Verhalten, sagt die Psychologie-Professorin Anne Böckler-Raettig. Dann komme der Einfluss der Umgebung ins Spiel: „Was Eltern vorleben, hat immensen Einfluss. Wachsen Kinder in einer Umgebung auf, in der man einander vertraut, ist schon viel gewonnen. Misstrauen bringt Egoismus hervor.“ Kinder schauen sich genau die Mechanismen des Zusammenlebens in der Erwachsenenwelt an, sie lernen: Wer gehört zu wem, wer verdient Hilfe, wem muss man danken? Die Fähigkeit, sich in andere einzudenken, ist sehr komplex. Psychologen wissen, das dauert, bis Kinder das entwickeln – oft ist ihnen das erst zum Ende der Grundschulzeit hin möglich. „Eine Perspektivübernahme ist sehr wichtig, um Entscheidungen zu treffen“, erklärt Anne Böckler-Raettig.
Sind jüngere Geschwister wirklich geiziger?
Viele glauben, dass typische schrullige Verhaltensweisen in den Strukturen der Herkunftsfamilie zu finden sind. Aber sind etwa jüngere Geschwister wirklich geiziger, weil sie glauben, immer zu kurz zu kommen wie früher, als sie den Älteren nicht das Wasser reichen konnten? Böckler-Raettig winkt ab. „In der Geschwisterforschung wurde die vergangenen Jahre vieles revidiert.“ Auch viele Vorurteile über mangelnde soziale Fähigkeiten bei Einzelkindern konnten in Studien nicht bestätigt werden. Kontakt mit Gleichaltrigen sei aber für die Entwicklung in jedem Fall prägend. Grundsätzlich gilt: Hat man viel mit Menschen zu tun, die gerne teilen, neigen Kinder wie Erwachsene selbst eher zu diesem Verhalten.
Umgekehrt gilt das genauso: Wenn die Freunde in der Kita nie den Bagger im Sandkasten hergeben, wird ein Kind selbst das Spielzeug eher nicht teilen. Anne Böckler-Raettig betont aber auch, dass Gene und Umfeld in der Kindheit sich nicht deterministisch auswirken. Im Gegenteil: Manchmal reicht nur sehr wenig, sozusagen ein Funke, wenn der überspringt, kann er das ganze Verhalten positiv beeinflussen, erklärt die Psychologin. Angenommen, ein Kind wächst mit Eltern auf, die es vernachlässigen und sich nur um sich selbst kümmern, da könnte man meinen, das Kind werde später selbst in den allermeisten Fällen zu einem schwierigen Charakter, zu einem Menschen, der misstrauisch ist und wenig altruistisch handelt. „Doch es gibt da vielleicht diese eine Tante, die nur alle paar Wochen mal vorbeikommt und ihm was mitbringt, mit ihm spielt, ihm großzügig ein Eis kauft – und damit enormen Einfluss auf es nimmt“, sagt Böckler-Raettig. „Es reicht manchmal sehr wenig, um extrem viel zu verändern.“
„Es reicht manchmal sehr wenig, um extrem viel zu verändern“
Leider gelte das auch umgekehrt. Komme jemand einmal durch den Einfluss anderer in einen Strudel aus Misstrauen und Missgunst, könne das sein eigenes Lebensgefühl und seinen Hang zur Großzügigkeit gegenüber anderen langfristig negativ beeinträchtigen.
Es genügt nur eine kleine Anregung
Den immensen Einfluss scheinbar kleiner Einflussnahmen beweist auch eine österreichische Studie: Probanden sollten aufschreiben, welche Gefühle die Vorstellung des eigenen Todes in ihnen auslöst. Kontrollprobanden sollten nur von ihren Emotionen bei Zahnschmerzen berichten. Später forderte die Studienleiterin die Probanden auf, einen Teil der Aufwandsentschädigung – 1,50 US-Dollar – für wohltätige Zwecke zu spenden. Die Teilnehmer, die sich zuvor mit ihrem Tod befasst hatten, gaben im Schnitt weniger als 60 Cent. Die aus der Kontrollgruppe gaben mehr als das Doppelte. Die Studienautorin zog die Schlussfolgerung, dass der Gedanke an den eigenen Tod die Probanden dazu verleitet hatte, eher auf den eigenen Besitz zu achten, ihn anzuhäufen.
Das konnte man in einer Folgestudie ganz leicht abwandeln: Die Probanden bekamen vor ihrer Schreibaufgabe einen Artikel über eine britische Wohltäterin zu lesen. Nach dieser Lektüre hielten sie offenbar Großzügigkeit für erstrebenswerter. Beim Gedanken an den eigenen Tod waren sie nun sogar freigiebiger als die Probanden der Kontrollgruppe. Manchmal, so die Schlussfolgerung, genüge also nur eine kleine Anregung, um ein großzügigeres Verhalten zu erwirken.
Hier zeigt sich dann auch die empirische Bestätigung des sogenannten Scrooge-Effekts, um wieder mit dem Geizhals von Charles Dickens zu sprechen. Nachdem der Alte nachts von drei Geistern besucht worden ist, die ihn mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontieren, wird er plötzlich zu einem großzügigeren Menschen.
An der eigenen Haltung ansetzen
All das zeigt: Veränderung ist möglich. „Wer am eigenen Verhalten arbeiten möchte, kann sich das vornehmen“, sagt die Psychologie-Professorin. Besonders wirksam sei es Untersuchungen zufolge, an der Haltung anzusetzen, also die eigenen Vorurteile zu hinterfragen beispielsweise. „Am erfolgreichsten ist der emotionale Ansatz“, sagt Böckler-Raettig. Wer lerne, Dankbarkeit zu empfinden und Mitgefühl, könne beispielsweise ein Gefühl der Verbundenheit mit Fremden entwickeln. Wie immer würden auf diese Weise positive Dynamiken in Gang gesetzt. Das ist im Grunde ganz banal: „Wenn wir selbst positiver in die Welt blicken, erleben wir auch positivere Dinge.“