Madelaine Linden hat Briefe veröffentlicht, die ihre Urgroßmutter in der Nazizeit von Hamburg aus an die Tochter in Buenos Aires geschrieben hat. Diese waren Basis für eine wissenschaftliche Arbeit Astrid Gehrigs, die nun auch in ein Buch mit dem Titel „Schreiben, wie mir’s ums Herz ist“ gemündet ist.
Birkach/Schönberg - Drei Jahre hat sich die in Schönberg lebende Historikerin Astrid Gehrig mit dem Leben von Madelaine Lindens jüdischer Urgroßmutter Anna Hess sowie den Lebensgeschichten ihren drei Kinder beschäftigt. Während ihre beiden Söhne und die Tochter Martha wegen der Nazis zwischen 1933 und 1937 ihre Heimatstadt Hamburg verließen, blieb Anna Hess bis zu ihrer Deportation im Jahr 1943 in der Hansestadt. Ihr Leben – aber auch die Veränderungen in der Gesellschaft – hat Hess in zahlreichen Briefen dokumentiert, die sie an ihre 1937 nach Buenos Aires emigrierte Tochter Martha schrieb.
Neuer Blick auf eine bisher nicht beachtete Opfergruppe der NS-Zeit
Diese waren der Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Arbeit Astrid Gehrigs, die in die Publikation „Schreiben, wie mir’s ums Herz ist“ mündete. Und Gehrig ist sicher, mit ihrer Arbeit den Blick auf eine Opfergruppe in der NS-Zeit zu lenken, „die bisher in der Forschung keine große Rolle gespielt hat“: Personen die alt, weiblich und nicht berühmt waren.
„Diese Menschen haben bisher in der Forschung keine Stimme“, sagt Astrid Gehrig, die sich als Historikerin besonders der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Nazizeit widmet. „Diese Zeit lässt mich einfach nicht mehr los“, sagt Gehrig. Für sie ist das Verfassen des jetzt im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienenen Buches (ISBN: 978-3-89691-111-7) auch „wie das Schreiben eines Krimis gewesen“, sagt sie.
Mit 88 Jahren von Hamburg nach Theresienstadt deportiert
Nicht nur das Leben der im Alter von 88 Jahren nach der Deportation von Hamburg in Theresienstadt verstorbenen Anna Hess beleuchtet die promovierte Historikerin Gehrig im Kontext der NS-Zeit. Auch hat sie für das mehr als 300 Seiten zählende Buch die Fluchtgeschichten der drei Hess-Kinder auf Basis aufwendiger Recherchen nachgezeichnet. „Das Leben von Anna Hess wäre für eine solche Arbeit zu wenig gewesen“, sagt Gehrig, die mit dem Buch ihre dritte Monobiografie mit Bezug zur NS-Zeit geschrieben hat, allerdings die erste, in der „es eindeutig nur um Opfer“ geht.
Exemplarisch rekonstruiert Gehrig in ihrer Arbeit den Alltag einer alten jüdischen Frau mit ihren Sorgen und Nöten und der sie erfassenden Einsamkeit, nachdem nicht nur die Kinder, sondern auch viele Freunde emigriert sind. „Die Briefe belegen eindrucksvoll die zunehmende gesellschaftliche Isolation“, sagt Gehrig.
Die große Geschichte am Beispiel von Einzelpersonen dokumentiert
Wichtig ist es Gehrig, mit ihrer Studie am Beispiel von Einzelpersonen „die große Geschichte“ darzustellen. Denn Hess sei keine Chronistin gewesen, sondern habe in den Briefen Stimmungen und Befindlichkeiten, Gefühle und Enttäuschungen wiedergegeben, „so, wie sie es eben erlebt hat“.